Es ist eine Reise, die Psalmen kennenzulernen
10.10.2022
Body & Soul

Die Psalmen als Schule des Betens

Wie ich im Psalmengebet Gott und mich selbst kennenlernen kann

Von Theresa Oesselke

Es ist Dienstagmorgen. Kurz nach sechs. Draußen ist es dunkel. Vereinzelt hört man einen Vogel zwitschern oder ein Auto vorbeifahren. Ansonsten ist es still. Ich sitze in der Kirche, noch etwas verschlafen und in Gedanken schon beim Frühstück.

Da erklingt ein sanfter Gong und eine Ordensschwester singt: „Herr, öffne meine Lippen“. Ich bin in dieser Woche zu Gast in einem Kloster der Benediktinerinnen. Um zu beten und für mein Studium zu arbeiten – ora et labora, wie es im Benediktinerorden heißt.

Viermal täglich werde ich in dieser Woche mit den Schwestern und den anderen Gästen in der Klosterkirche zusammenkommen und die Psalmen beten. Psalmen sind Gebete und Lieder aus dem Alten Testament, die sich an Gott richten oder von ihm erzählen. Wir beten morgens, mittags, spätnachmittags und abends.
Ich tauche ein in die Worte, mit denen Menschen vor über 2000 Jahren ihr Leben und ihre Gottesbeziehung zum Klingen bringen. Ob ich so Gott nochmal neu kennenlernen werde?

Psalmen

Das Wort „Psalmen“ wird abgeleitet vom griechischen psalterion, und bedeutet „Sammlung von Saitenliedern“. Im Alten Testament sind 150 Psalmen überliefert, die in fünf Bücher aufgeteilt sind. Diese fünf Bücher sehen viele in jüdischer Tradition analog zur Tora, den fünf Büchern, die Mose dem Volk Israel gegeben hat.

Die biblische Sammlung der Psalmen hat eine komplexe Entstehungsgeschichte. Sie ist aus verschiedenen selbstständigen Sammlungen entstanden und redaktionell zusammengefügt worden. Sehr umstritten ist die genaue Datierung der verschiedenen Texte. Im jüdischen und christlichen Gottesdienst erhielten die Psalmen eine zentrale liturgische Bedeutung und es entwickelte sich die Praxis des Psalmengesangs. Trotzdem sind die Psalmen aber immer auch die Gebets- und Meditationstexte der persönlichen Frömmigkeit geblieben.
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Irritation und Faszination

Das Nachtgebet, die sogenannte Matutin, beginnt. Danach werden noch die Eucharistiefeier und anschließend die Laudes, das Morgengebet der Kirche, folgen. Etwa eineinhalb Stunden insgesamt. Wir beten einen Psalm nach dem nächsten. Irgendwann verliere ich den Überblick, an welcher Stelle wir im Stundengebet gerade überhaupt sind. Ich höre einfach nur noch zu. Lasse den Gesang und den Kirchenraum auf mich wirken.

Doch auf einmal bin ich hellwach: „Wohl dem, der deine Kinder packt und sie am Felsen zerschmettert.“ Ich frage mich: Haben wir das gerade wirklich gebetet? Was für eine brutale Vorstellung. Das passt überhaupt nicht in mein Gottesbild. Es bleibt nicht das einzige Mal, an dem mich Textstellen irritieren und mit Fragen zurücklassen.

Später wird mir eine Schwester erklären, dass dieser Psalm 137 einer der schwersten Psalmen der Bibel ist. Die Kinder würden symbolisch für das Böse stehen, das Gott zerstören wird. An dem Felsen, der ein Bild für Christus sei.

Ich bin irritiert, aber gleichzeitig fasziniert von der Symbolsprache dieser Texte und neugierig geworden, welche Bedeutung hinter den Sätzen eigentlich wirklich steht. Und vor allem, warum so viele Menschen die Psalmen täglich beten.

Zum Stundengebet gehören verschiedene Gebetszeiten am Tag

Stundengebet

Die Psalmen haben ihren Platz vor allem im Stundengebet. Es ist das Gebet, das Ordensschwestern und –brüder, Kleriker und viele Laien täglich zu bestimmten Zeiten beten. Zum Stundengebet gehören sieben Gebetszeiten, die sogenannten Horen: Lesehore, Laudes, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet. Von den drei mittleren Horen, den sogenannten kleinen Horen, wird oft aber nur eine gebetet oder sie werden zu einem Mittagsgebet zusammengefasst. Die verschiedenen Horen bestehen aus unterschiedlichen liturgischen Elementen wie Hymnen, Psalmen, Lesungen und Fürbitten.

Vor allem kontemplative Orden, wie die Benediktinerinnen, haben sich ganz auf das Lob Gottes im Stundengebet ausgerichtet. Sie beten es stellvertretend für die ganze Kirche und bitten darin für alle Menschen. Für Menschen, die sich in Situationen befinden, von denen die Psalmen erzählen – Freude und Dank, aber auch Klage und Bitte.

Der königliche Gott und Ich

Um zu verstehen, wie ich Gott in den Psalmen entdecken kann, hilft mir folgende Sichtweise: Die Psalmen sind die Stimme der Kirche. So haben es die Kirchenväter, die christlichen Autoren der ersten acht Jahrhunderte, gesehen. In der Frühzeit der Kirche waren die Psalmen selbstverständlich das bevorzugte Gebet der Christen. Viele Christen kannten sogar mehrere Psalmen auswendig.

Im Zentrum der Psalmentexte steht die Vorstellung eines königlichen Gottes, der Herrscher über die ganze Erde ist. Diesem Gott steht in einem großen Teil der Psalmen ein betendes Ich gegenüber. Ein Mensch, der zu Gott spricht. Es ist ein Dialog von Mensch und Gott – mit vielen Facetten.

So handelt beispielsweise Psalm 22 von der Erfahrung der Gottverlassenheit. Der Beter klagt: „Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort; und bei Nacht, doch ich finde keine Ruhe.“
In Psalm 23, wohl einem der bekanntesten Psalmen, finden wir das Bild des guten Hirten: „Der Herr ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen.“ Am Ende des Psalmenbuches steht schließlich das große Finale, das Lob Gottes: „Alles, was atmet, lobe den Herrn. Halleluja!“

Gott und mich selbst im Psalmengebet kennenlernen

Je länger ich die Psalmen bete, desto mehr spüre ich, wie sie etwas in mir auslösen. Auch wenn ich noch nicht genau sagen kann, was. Von einer Schwester erfahre ich, dass die Psalmen wie eine Sprachschule des Glaubens sind, in der ich lerne, wer Gott ist. Und in der ich lernen kann, wer ich als Mensch selbst bin. Ich kann mich selbst vor Gott entdecken. Äußerlich, aber auch innerlich. Wer die Psalmen lese, lerne sich selber in seinen inneren Regungen kennen. Gott und mich selbst kennenlernen – das ist ein langer Prozess. Ein Lebensprozess.

Die Psalmen sind eine Sprachschule des Glaubens

Die Psalmen als Ort der Begegnung mit Jesus Christus

Manchmal frage ich mich, warum ich die Psalmen heute noch beten soll – es handelt sich doch um uralte Texte. Aber sie verbinden mich mit Jesus. Er hat selbst mit den Psalmen gebetet. Das Buch der Psalmen ist das meistzitierte Buch im Neuen Testament. Besonders die Passionserzählungen um den Tod Jesu sind voll von Psalmenzitaten – „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ ist wohl das bekannteste. Viele Kirchenväter waren von Anfang an davon überzeugt, dass wir in den Psalmen auch Christus selbst begegnen.

Aber es ist noch etwas anderes, das ich hier beim Psalmengebet der Schwestern feststelle: die Psalmen sind nicht nur das Wort Gottes, sondern für die Schwestern werden sie zu ihrem eigenen Gebet. Die Psalmen geben ihnen die Möglichkeit, ihre eigenen Lebenserfahrungen und Haltungen wie in einem Spiegel zu erkennen, sie ins Wort zu fassen und von Christus formen zu lassen. Mit Christus zu Gott, dem Vater, zu beten.

Die Psalmen können zum eigenen Gebet werden

Mit den Psalmen beten lernen

Inzwischen ist es Abend. Draußen ist es wieder dunkel geworden. In der Klosterkirche beginnt die Komplet, das letzte Gebet des Tages. Nach einem stillen Rückblick auf den Tag folgen die Psalmen. Dieses Mal sind es Texte, die daran erinnern, dass Gott uns Zuflucht ist – wie eine Burg.

Nach dem Gebet verlasse ich die Kirche mit einem Gefühl der Gelassenheit und Zuversicht. In mir klingt ein Satz aus den Psalmen der Komplet nach: „In Frieden lege ich mich nieder und schlafe ein. Denn du, Herr, allein lässt mich sorglos ruhen.“ Dieses Gefühl habe ich durch das Psalmengebet heute spüren dürfen.

»In Frieden lege ich mich nieder und schlafe ein. Denn du, Herr, allein lässt mich sorglos ruhen.«

Ausschnitt aus Psalm 4
während der Komplet

Später entdecke ich zufällig ein Zitat von Papst Franziskus zum Psalmengebet: „Wenn wir die Psalmen immer wieder lesen, erlernen wir die Sprache des Gebets. Denn Gott, der Vater, hat sie mit seinem Geist in das Herz des Königs David und anderer Beter eingegeben, um jeden Mann und jede Frau zu lehren, wie man ihn loben, wie man ihm danken und ihn bitten soll, wie man ihn in der Freude und im Leiden anrufen soll, wie man von den Wundern seiner Werke und seines Gesetzes erzählen soll. Kurz gesagt, die Psalmen sind das Wort Gottes, das wir Menschen gebrauchen, um mit ihm zu sprechen.“

»Wenn wir die Psalmen immer wieder lesen, erlernen wir die Sprache des Gebets.«

Papst Franziskus
bei einer Audienz über das Psalmengebet

Auf den Klosterfluren herrscht Stille. Bis in ein paar Stunden der neue Tag mit dem Lob Gottes in der Kirche beginnen wird.

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