Der Leichnam von Carlo Acutis, 2006 an Leukämie verstorben, in der Kirche Santa Maria Maggiore in Assisi am 10. Oktober 2020.
03.11.2020
Faszination

Mythos Carlo Acutis

Der neue Selige wird gefeiert – als Influencer Gottes, als Patron der Digitalen Welt, als Cyber-Apostel. Zurecht?

test
von Lioba Vienenkötter

Hast du den Hype mitbekommen, oder ging es dir genauso wie mir? Ich sage nur: Carlo Acutis. Der 15-Jährige, gestorben 2006, war in den vergangenen Woche DAS Thema in der katholischen Filterblase, weil er seliggesprochen wurde – als erster Millennial überhaupt.


Ich muss zugeben: An mir ist das Thema bisher vorbeigegangen. Deswegen möchte ich einen bewusst kritischen Blick auf die Seligsprechung legen.

Carlos Acutis wurde als erster Millennial seliggesprochen. Wer war der 15-Jährige?

Wenn man sich Bilder von Carlo anschaut, dann sieht er aus wie ein ganz normaler Jugendlicher: Kapuzenpullis und Polo-Shirts, Jeans und Sneaker, braune Locken, Sonnenbrille und ein freundliches, etwas schiefes Lächeln. Doch ganz so normal kann der junge Italiener nicht gewesen sein, schließlich wurde er am 10. Oktober im Namens von Papst Franziskus seliggesprochen. Was führte zu dieser Entscheidung? Wer war Carlo Acutis?

»Immer mit Jesus vereint sein, das ist mein Lebensweg.«

Carlo Acutis

Carlo Acutis, Sohn eines Bankers, wurde 1991 in London geboren. Kurz nach Carlos Geburt zog die Familie nach Mailand. Die Grundzüge des katholischen Glaubens lernte Acutis von seinem polnischen Kindermädchen. Die Erstkommunion empfing er schon mit sieben Jahren, wie es in Italien üblich ist. Er besuchte katholische Schulen und engagierte sich als Jugendlicher in seiner Pfarrei als Katechet. Für dieses Amt entwickelte er erste digitale Lehrangebote. Carlo war sehr computerinteressiert und entwickelte schon mit zehn Jahren eigene Webseiten. Mit elf Jahren erstellte Carlo ein Online-Verzeichnis, das 136 überlieferte eucharistische Wunder aus allen Kontinenten sammelte und katalogisierte. 

Anfang Oktober 2006 wurde bei Carlo Acutis eine akute Leukämie festgestellt. Am 10. Oktober 2006 erbat er im Krankenhaus San Gerardo in Monza die Krankensalbung und die Kommunion. Am 12. Oktober 2006 starb Carlo durch Herzversagen. Im Januar 2007 wurde er seinem Wunsch entsprechend vom Friedhof in Ternengo auf den Friedhof von Assisi umgebettet.

»Ich glaube, dass viele Leute den Wert der heiligen Messe nicht wirklich bis ins Letzte verstehen. Denn wenn sie den großen Reichtum erkennen würden, den der Herr uns geschenkt hat, indem er sich uns als Speise und Trank hingeschenkt hat in der heiligen Hostie, würden sie jeden Tag in die Kirche gehen, um an den Früchten des Opfers, das dort gefeiert wird, teilzuhaben, und auf viele überflüssige Dinge verzichten.«

Carlo Acutis

Auf dem Bild sieht man zum Gebet gefaltete Hände.

Was ist eigentlich eine Seligsprechung?

Eine Seligsprechung ist ein kirchen-rechtliches Verfahren, zu dessen Abschluss der Papst erklärt, dass eine Person als Seliger verehrt werden darf. Dafür muss die Person entweder ein Märtyrer sein oder den heroischen Tugendgrad zugesprochen bekommen, für den ein Wunder nachgewiesen werden muss.  Hier findet ihr ein Interview vom Domradio, mit dem ihr euch weiterführend informieren könnt.

Schon der überraschende Tod Carlos nur wenige Tage nach der Diagnose sorgte für eine große Presseaufmerksamkeit in Italien. Sein Tod war außerdem der Gründungsmoment einer weltweiten Netzgemeinde, die in Acutis einen "Cyber-Apostel" sah. 2012 wurde dann der offizielle Seligsprechungsprozess initiiert. 2013 erkannte Papst Franziskus das Wunder an, das zur offiziellen Seligsprechung notwendig war: Ein schwer kranker brasilianischer Sechsjähriger soll von heute auf morgen gesundet sein, weil er ein T-Shirt von Carlo berührt habe. Woher auch immer er es hatte. 2019 wurde Carlos Leichnam exhumiert, die Behauptung, der Körper sei unversehrt, die unter anderem von seiner Mutter online verbreitet worden war, wurde widerlegt. Carlos Herz wurde entnommen und wird nun in einem Reliquiar in der Kathedrale zu Assisi präsentiert. Auch der Leichnam wird in einem Hochsarg mit Glasfenster ausgestellt. Vor drei Wochen wurde Carlo seliggesprochen.

Diese Nachricht ging um die Welt.

Die katholische Presse war und ist auch jetzt noch voll mit diesem Thema, mit dem ersten Seliggesprochenen Millennial. Auch die ZEIT, FAZ oder die Süddeutsche berichteten. Carlo Acutis wird gefeiert – als Influencer Gottes, als Patron der Digitalen Welt, als Cyber-Apostel. Der Bischof von Assisi, Monsignore Domenico Sorrentino, stellte Carlo in die Nachfolge Franz von Assisis, er beschrieb die beiden als Männer der Straßen ihrer Zeit. Klar das ist schon eine irre Geschichte – ein seliger 15-Jähriger, aber ist der Hype wirklich gerechtfertigt?

»Er hat uns in seinem jungen Alter deutlich gemacht, dass Jesus in der Eucharistie die Autobahn zu Gott ist.«

Weihbischof Christoph Hegge
am 10.10.2020 im Jugendgottesdienst in der Gemeinde St. Joseph Greven

Carlos ist für viele Menschen zum religiösen Vorbild geworden.
Man sieht ein leuchtendes Kreuz.

Für mein Gefühl ist nicht nur die Reaktion auf die Seligsprechung ein einziger Hype – auch die Seligsprechung an sich betrachte ich als solchen: Vielleicht ging das in Carlos Fall etwas schnell? Gut, er ist seit 14 Jahren tot, das ist eine lange Zeit, aber für mich fehlt der entscheidende Grund für die Entscheidung, warum Acutis gerade jetzt seliggesprochen wird – ohne da den Entschluss des Papstes in Frage stellen zu wollen. Aber es hat schon einen Beigeschmack, als wäre die
die Seligsprechung eines „Cyber-Apostels“ zu diesem Zeitpunkt, mitten in der Pandemie, während der vieles online läuft, vielleicht nur ein ausgeklügelter Schachzug des Vatikans? Was hätte für mehr internationale Aufmerksamkeit gesorgt als die Seligsprechung eines 15-Jährigen, die noch dazu online übertragen wurde und gestreamt werden konnte?

Ich persönlich finde die Vorstellung, den Leichnam eines 15-jährigen auszustellen und als Fürsprecher anzurufen eher gruselig als erhellend, von seinem Herz in einem Goldgefäß ganz zu schweigen. Jeder, der die Fotos von Carlo Acutis in der Kathedrale von Assisi gesehen hat, kann sich seine eigene Meinung bilden. Da liegt ein Jugendlicher im Sweatshirt, Jeans und Turnschuhen, um dessen Hände ein Rosenkranz geschlungen ist. Auf den ersten Blick könnte man meinen, er schliefe, doch die Silikonmaske täuscht. Mich erinnert das an eine Mischung aus Schneewittchen und dem russischen Personenkult um Lenin zum Beispiel. Menschen in Glassärgen sind, meiner Meinung nach, nicht zeitgemäß. Und ganz ehrlich – soll der tote Körper angerufen werden oder die Person als solche, mit dem was sie für die Kirche und den Glauben geleistet hat? Ich sehe da einen Widerspruch. Dass mittelalterliche Reliquien noch heute verehrt werden, kann ich irgendwie nachvollziehen, aber ich habe das immer als abgeschlossenes Prozedere betrachtet. Vielleicht ist das aber auch nicht meine Form des Glaubens.

»Die Eucharistie ist meine Autobahn zum Himmel.«

Carlo Acutis

Carlos - ein Mythos?

Für mein Gefühl ist nicht nur die Reaktion auf die Seligsprechung ein einziger Hype – auch die Seligsprechung an sich betrachte ich als solchen: An dieser Stelle möchte ich auch einen Gedanken der ZEIT aufgreifen, die schreibt, dass jede Heldengeschichte auch ein Mythos sei. Die Mythologisierung des Carlo Acutis scheint mir schon recht weit geschritten: Man sollte zum Beispiel nicht vergessen, dass ihm Sach- und Geldspenden an Bedürftige ohne den finanziellen Status seiner Familie nicht möglich gewesen wären. Die Außergewöhnlichkeit seines Handelns schmälert das natürlich nicht.

»Dank ihm ist mein Glaube gewachsen.«

Antonia Salzano
Carlos Mutter

Obwohl ich persönlich mit der Seligsprechung hader, sehe ich darin auch eine Chance für die Kirche. Erstens, um antiquierte Ideen zu verabschieden – so zum Beispiel die Unversehrtheit des Körpers seligzusprechender Menschen. Dass hier der Erzbischof von Assisi den Behauptungen auf den sozialen Medien, Carlos Körper sei nicht verwest, widersprach, empfinde ich als gutes Signal.

Und zweitens sehe ich Carlos Seligsprechung als Hinwendung des Vatikans zur modernen Welt – als Hinwendung zum Internet und als Hinwendung zu Jugendlichen. Der Papst würdigt hier das soziale und kirchliche Engagement eines 15-jährigen als wertvollen Beitrag zum religiösen Miteinander. Diese Wertschätzung und Wahrnehmung der jungen Generation empfinde ich als gutes Zeichen. Und eventuell kann dieses Beispiel auch uns zum Nachdenken anregen: Was kann ich in meinem Engagement tun, um gesehen zu werden? Wo bewirke ich etwas Gutes, das die Menschen bewegt und berührt? Wie kann mein Handeln meine Gemeinde weiterbringen? Gerade in diesem Sinne kann Carlo Acutis für uns alle zur Hoffnung und zum Vorbild werden.

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