Am Horizont sieht man schon die Kirchtürme von Werl.
28.11.2020
Faszination

Maria, schenk mir einen Augenblick

Von grünem Sandstein, küssenden Kühen und Jakobsmuscheln – ein Tag auf Pilgertour in der Soester Börde

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von Lioba Vienenkötter

Meine beste Freundin und ich waren wandern. Das haben wir schon oft gemacht – egal ob in Spanien oder im Sauerland, manchmal mit Hängematte und immer mit Doppelkeksen. Dieses Mal waren wir auf dem Jakobsweg zwischen Soest und Werl unterwegs. Ich sollte also besser „pilgern“ statt „wandern“ schreiben.

Wir starten um 9 Uhr morgens. Den ganzen Tag werden wir unterwegs sein, viele Kilometer wandern, viele Kirchen besuchen, viele Stunden reden und schweigen. Es soll ein langer Tag werden – ein anstrengender Tag, aber vor allem ein befreiender Tag.

Unser erster Stopp ist die Soester Wiesenkirche. Im grünen Anröchter Sandstein reckt sie sich gen Himmel. Merkt euch den Sandstein, der kommt noch öfter vor. Hier ist alles aus diesem Stein gebaut: Kirchen, Mauer, Fensterleibungen – und das ist schön so. Anröchter Sandstein ist wie Nachhausekommen.

Der Patroklidom und die Petrikirche auf dem Soester Marktplatz
Die gelben Jakobsmuscheln auf blauem Grund zeigen Pilgern den Weg.
Das Kloster Paradiese liegt malerisch vor Soests Stadtgrenzen.

Wo ich auch stehe, du warst schon da.
Wenn ich auch fliehe, du bist mir nah.
Was ich auch denke, du weißt es schon.
Was ich auch fühle, du wirst verstehn.

Und ich danke dir, dass du mich kennst und trotzdem liebst.
Und dass du mich beim Namen nennst und mir vergibst.
Herr, du richtest mich wieder auf,
Und du hebst mich zu dir hinauf.
Ja, ich danke dir, dass du mich kennst und trotzdem liebst.

(Wo ich auch stehe – Albert Frey)

Gehen wir also direkt weiter, denn auf dem Soester Marktplatz, lassen sich direkt zwei Sandsteinkirchen bewundern: der katholische Patroklidom und die evangelische St. Petri Kirche. Steht man im richtigen Winkel, sieht es so aus, als wären sie nicht zwei, sondern eine Kirche. Ein schönes Bild der Ökumene – vor allem, wenn man bedenkt, welchen Unruhen sich die Stadt angesichts der 1531 eingeführten Reformation gegenübersah. Aus diesem Grund sind auch alle großen Kirchen in Soest und in der Soester Börde, bis auf St. Patrokli, evangelisch. Wir haben uns schon gewundert. Und deshalb wurde auch 1661 eine Madonnenstatue (und damit die seit der Reformation ruhende Marienwallfahrt) durch den Erzbischof von Köln aus der Wiesenkirche nach Werl überführt. Aber dazu später mehr.

Wir brechen auf und verlassen Soest. Um den richtigen Weg zu finden, suchen wir nach den Zeichen des Jakobsweges: gelbe stilisierte Muscheln auf blauem Grund. Die Jakobsmuscheln machen unser Pilgern zur Muschelsuche. Das Pilgern hat in Soest und der Soester Börde eine jahrhundertelange Tradition. Es gibt die Jakobistraße, die zum Jakobitor und dem Jakobibrunnen führt. Dort steht auch das Pilgrimhaus, das als ältestes Gasthaus Westfalens gilt. Schon in der Gründungsurkunde von 1304 wurde bestimmt, dass Wandernde und "durch die Felder Streifende" Aufnahme und Bewirtung finden mussten. Gemeint waren vor allem die Jakobs-Pilger, die auf dem Wege nach Santiago de Compostella Rast in diesen Pilgerherbergen machten.

Im Wandern erhält Umkehr eine ganz neue Bedeutung. Man muss innehalten, sich neu orientieren, ein paar Meter oder auch Kilometer zurückgehen, um auf den richtigen Weg zurückzufinden.

Endlich mal ein Wanderweg, der gut ausgeschildert ist. Könnte man meinen. Verlaufen haben wir uns trotzdem, die Soester unter euch werden vermutlich lachen, aber ehrlich gesagt sind wir schon auf dem Weg aus Soest raus in die falsche Richtung gelaufen. Aber was heißt schon falsch? Schließlich sind wir trotzdem angekommen. Und zwar zuerst am ehemaligen Kloster Paradiese. Das Dominikanerinnenkloster aus dem 14. Jahrhundert war lange Zeit Spielball von Kirche und Politik. So wechselten die Nonnen im Zuge der Reformation mehrfach die Konfession, bis schließlich evangelische und katholische Nonnen nebeneinander wohnten und arbeiteten. Heute ist das Kloster ein Gesundheitszentrum für Krebspatienten.

Die Galgenvögel sind ein Kunstwerk aus Stahl

Wir wandern weiter, immer parallel zum Hellweg, der alten Handelsstraße, durchqueren Ampen und treffen auf die „Galgenvögel“ – ein Kunstwerk von Fritz Risken. Es markiert die Stelle, an der im Mittelalter ein Galgen stand. Die Installation stellt die immer aktuelle Frage nach dem Sinn und Unsinn der Todesstrafe. 

Im Gegenlicht der tiefstehenden Novembersonne wird der Stahl des Kunstwerks schwarz. Der Weg führt uns über eine Hügelkuppe. Wir drehen uns um und sehen die Kirchtürme von Soest. So klein und weit weg.

Überall werden wir nett gegrüßt. Eine Radfahrerin hält neben uns an. Sie sagt, sie habe uns morgens schon in Soest gesehen. Erkennt uns sofort als Pilgerinnen. Wünscht uns noch einen guten Weg. Es ist schön, sie und andere Menschen zu treffen und zu grüßen. Diese kurzen Wortwechsel versüßen den Weg.

Von einer Hügelkuppe aus kann man die Kirchtürme von Soest sehen

In Ostönnen treffen wir gefleckte Kühe. Sie strecken ihre Hälse, wir strecken unsere Hände über den Stacheldrahtzaun. Ich streichele die weiche Schnauze der Kuh. Sie schnuppert und umschlingt meine Finger mit ihrer sehr rauen, grauen Zunge ab. Ein Kuss von einer Kuh. An der evangelischen Kirche in Ostönnen machen wir Mittagspause. Leider ist die Kirche verschlossen, wir hätten gerne die älteste bespielbare Orgel der Welt gesehen, wie die Wegbeschreibung verlauten lässt.

Die katholische Cäcilienkirche in Westönnen, die nächste Kirche auf dem Weg nach Werl, ist hingegen geöffnet. Sie hat eine weitere Überraschung für uns parat: Neben dem Eingang liegen ein Stempel und ein dazugehöriges Stempelkissen - das erste Schmuckstück für unseren Pilgerpass. Dieser Weg ist wie eine Schatzsuche.

Die Kirche in Westönnen

Hinter der Kirche steht ein Kriegerdenkmal, auf dem der Heilige Georg abgebildet ist. Ich erzähle meiner Freundin die Legende des Heiligen, sie trägt uns aus dem Dorf hinaus auf die Felder. Von dort aus kann man die Kirchtürme Werls erspähen. Noch fünf Kilometer, dann ist es geschafft. Trotzdem wagen wir noch einen kleinen Abstecher zum Gut Ostuffeln, um die St. Josef Kapelle zumindest von außen zu besichtigen. Vor über 150 Jahren wurde sie als Kapelle einer „Verpflegungsanstalt für arme, waise Knaben" gebaut. Heute befindet sich auf dem Gelände eine Wohnanlage für Menschen mit psychischer Behinderung.

Gott schenke Dir ein wenig Zeit! Möge die Stille Dir gut tun. Möge Dein Herz zu heilen beginnen. 
Möge Gott mit Dir sein, wenn Du wieder hinaus gehst.
Er begleite Dich als guter Freund, wohin auch immer Dich Dein Weg führt. 
Amen!

(Pilgersegen)

zwei Kühe am Wegesrand

Maria,
wenn ich dir in die Augen schaue,
spüre ich:
Du hast auf mich gewartet.
Du kennst mich.
Du bist ganz da für mich. […]

Wenn ich dir in die Augen schaue,
bitte ich dich:
Lass deinen Blick auf mir ruhen.
Lass deinen Blick weitergehen
durch mich.
Lass mich die Menschen
anschauen wie du:
mit Augen voll Klarheit und Wärme.

Maria, schenk mir einen Augenblick.
Deinen Augenblick.

(Josef Treutlein)

Das Gut Ostuffeln liegt malerisch zwischen den Feldern

Die Sonne hat ihren Zenit längst überschritten, so langsam wird es dunkel. Wir wandern weiter. Schließlich erreichen wir Werl. Schon am Ortseingang ist die Wallfahrtsbasilika ausgeschildert. Als wir vor der Basilika stehen, verstehe ich warum. Auch wenn wir den ganzen Tag auf die Kirche zugelaufen sind, hatte ich nicht erwartet, dass sie so groß sein würde. Oder so schön. Die Türme recken sich in den Himmel, der Sandstein und das blau harmonieren perfekt miteinander.

Die Wallfahrtsbasilika von Werl ist wunderschön
Die Marienstatue steht direkt neben dem Altar

Wir betreten die Basilika über den Seiteneingang und sind allein in der Kirche. Wir setzen uns. Neben dem Altar steht das Gnadenbild Marias. Maria lächelt milde, sie und das Jesuskind heben die Hände zum segnenden Gruß. Sie haben eine beruhigende Ausstrahlung.

Das Gnadenbild stammt aus dem 12. Jahrhundert und wurde nicht, wie lange geglaubt, auf der schwedischen Insel Gotland, sondern im Rheinland hergestellt. Zuerst stand die Statue in Ahlen, dann in der Soester Wiesenkirche und wie eingangs schon erwähnt seit 1661 in Werl. Ein wichtiger Punkt in der Marienverehrung war die Krönung des Gnadenbildes: Zur Betonung der Marienanbetung können Marienstatuen in einem liturgischen Akt gekrönt werden – im wortwörtlichen Sinne. Die Maria in Werl und ihr Jesuskind wurden 1911 mit kostbaren Kronen gekrönt. Im gleichen Jahr konnte auch die neue Wallfahrtskirche geweiht werden, der dritte Bau, der das Gnadenbild beherbergen sollte. 1953 wurde die Kirche dann von Papst Pius XII. zur Basilika minor ernannt, eine Ehrung, die die Bedeutung der Wallfahrtskirche Mariä Heimsuchung für den Glauben und die Region unterstreicht.

Unser Pilgern steht in einer langen Tradition. So viele Tausende Menschen sind vor uns diesen Weg gegangen, haben ihre Spuren hinterlassen in Wegmarken, Heiligenhäuschen und Eintragungen in den Pilgerbüchern. So viele haben sich inspirieren und trösten lassen. Und nun sitzen wir hier. Schweigend. Schauen zum Gnadenbild hinauf, zünden eine Kerze an, kommen zur Ruhe. Die Füße sind müde, die Beine sind schwer und der Kopf ist frei.


Die Pilgerstempel sammeln sich im Pilgerpass

Der Weg, den wir heute bestritten haben, habe ich auf www.orte-verbinden.de gefunden, wo ganz viele Pilger- und Wanderwege für das ganze Erzbistum Paderborn gesammelt werden. Schau doch auch mal vorbei!

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