01.11.2022
Body & Soul

Spuren hinterlassen, wenn wir sterben

Wie das Allerheiligenfest für mich zum Hoffnungsbild geworden ist

von Theresa Oesselke

Seit meiner Kindheit sind wir in der Familie häufig über den Friedhof spazieren gegangen. Unzählige Male bin ich dort gewesen. Wir haben die Gräber meiner verstorbenen Urgroßeltern besucht, von Nachbarn und Bekannten. Viele davon habe ich selbst nie kennengelernt oder war zumindest noch zu klein, um mich später daran erinnern zu können. Aber an einen Friedhofsbesuch erinnere ich mich noch genau:

Es war Allerheiligen, in dem Jahr, als völlig unerwartet mein Großvater und kurze Zeit später meine Urgroßmutter verstorben sind. Draußen war es schon dunkel und überall auf den Gräbern brannten Kerzen. Auf manchen Gräbern standen kleine Engel oder frische Blumengestecke. Dieser Besuch auf dem Friedhof war anders als sonst. Ich hatte Bilder von Menschen im Kopf, die ich gut kannte und die mir auf einmal fehlten. Doch ausgerechnet in diesem Jahr habe ich erfahren, was Hoffnung bedeutet.

Allerheiligen

Die Wurzeln des Allerheiligenfestes finden sich im Orient, wo schon im 4. Jh. ein Gedächtnis aller Märtyrer begangen wurde. Das heutige Allerheiligenfest wurde im 8. Jh. zuerst in England und Irland gefeiert, bevor es im 9. Jh. auch auf das Festland überging.

Der Gedenktag an alle Heiligen schließt aber nicht nur jene Heilige ein, die von der Kirche ausdrücklich heiliggesprochen wurden. Heute denkt die Kirche auch an alle Verstorbenen, die schon zu Gott in den Himmel gekommen sind. Papst Franziskus nennt sie auch die „Heiligen von nebenan“.

Wenn das Leben stillsteht

Wenn ein geliebter Mensch stirbt, ändert sich das Leben für die Angehörigen von einem Moment auf den anderen. Das Leben scheint stehen zu bleiben. Sich in zwei Phasen zu unterteilen: die Zeit vor und die Zeit nach dem Tod. Man steht vor großen Herausforderungen: den Verlust akzeptieren, den Schmerz zulassen, sich an das Fehlen der Person anpassen, dem Verstorbenen einen neuen Platz im eigenen Leben geben.

Orte der Erinnerung

Vielen Trauernden hilft es, einen konkreten Ort der Erinnerung an die verstorbenen Menschen zu haben: das Zimmer der verstorbenen Person, der Platz am Küchentisch, ein bestimmter Urlaubsort, der Unfallort.
Für mich ist dieser Ort das Grab auf dem Friedhof geworden. Und das mit einer doppelten Erfahrung: Es ist der Ort, an dem die Verstorbenen ihre letzte Ruhe gefunden haben. Wo ich mich ihnen besonders nahe fühle. Wo ich weiß, dass ich sie besuchen kann. Es ist ein Ort der besonderen Nähe zu den Verstorbenen.
Gleichzeitig ist es auch ein Ort, der immer wieder den Schmerz der Trauer hervorruft. Wo die Fragen und Zweifel wieder aufkommen. Wo ich traurig bin und meine Gefühle nur schwer verstecken kann.

Der Friedhof als Hoffnungsbild über den Tod hinaus

Als ich in dem Jahr an Allerheiligen mit meiner Familie den Friedhof besuche, wird dieser Ort für mich zu einem Hoffnungsbild. Die vielen brennenden Kerzen auf den Gräbern zeigen mir, dass ich mit meinen Erfahrungen nicht alleine bin. Dass viele Menschen gerade in dieser Zeit an ihre Verstorbenen denken.

Und der Anblick auf den mit Kerzen erhellten Friedhof erinnert mich an noch etwas: Bei all den Zweifeln nach dem Tod eines lieben Menschen – für mich bleibt doch meine christliche Hoffnung auf die Auferstehung. Auf ein Wiedersehen nach dem Tod. Als Christen glauben wir, dass der Mensch nach dem Tod in den Himmel kommt, zu Gott selbst.

Der Theologe Gisbert Greshake formuliert die Vorstellung vom Leben nach dem Tod so: „Es geht nicht um Wahrsagerei, auch nicht um die Erwartung von irgendwelchen dramatischen Endereignissen, sondern um den Ausdruck der Hoffnung, dass der persönliche Gott die Zukunft des Menschen ist und dass diese Zukunft eine gute ist, eben weil sie die Zukunft Gottes ist.“ Diese gute Zukunft ist, so vermittelt uns die Bibel, mit der Auferstehung Jesu schon angebrochen. Seine Auferstehung ist Grund aller christlichen Hoffnung.

Spuren von Liebe

Inzwischen ist das Allerheiligenfest ein Moment im Jahr, an dem ich mir besonders Zeit nehme, an die Verstorbenen zu denken. An die Menschen, die nicht mehr bei mir sind. Von denen ich hoffe, dass sie schon bei Gott sind.

Jeder Mensch wird einmal sterben – ob jung, alt, früh, spät, plötzlich oder nach langer Krankheit. Erst durch den Tod erfahren wir oft, dass das Leben nicht selbstverständlich ist. Es ist ein Geschenk.

Wenn ich über das Sterben und den Tod nachdenke, erinnere ich mich an einen Satz. Er stand auf der Traueranzeige meines verstorbenen Großvaters: „Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir ungefragt weggehen und Abschied nehmen müssen“.

»Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir ungefragt weggehen und Abschied nehmen müssen“«

Albert Schweitzer

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