"Arbeit macht frei" - das berüchtigte Lagertor des Stammlagers
05.11.2021
Politik

Auschwitz - Zu Besuch im Grauen

Wie Roverinnen und Rover die Schicksale des Konzentrationslagers erleben

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von Lioba Vienenkötter

Willkommen am ehemals grausamsten Ort der Menschheit: Auschwitz, Stammlager I. Am Eingang lärmen Schulklassen, warten Reisebusse, sogar ein Snackautomat steht parat. Doch die heitere Atmosphäre hält nicht lang. Wir begleiten Mike Gluch, 23 (DPSG Don Bosco, Hamm-Heessen) und Jule Schneider, 18 (DPSG Dreisbe), die im Rahmen einer Gedenkstättenfahrt des Diözesanverbandes der DPSG Paderborn in Auschwitz sind. Beide haben ein beklemmendes Gefühl, als sie mit den anderen das ehemalige Konzentrationslager durch das unheilvolle Tor betreten: „Arbeit macht frei“.

In den nächsten Stunden werden sie erleben, dass dieser Titel blanker Hohn war. Die Arbeit im Konzentrationslager Auschwitz Stammlager I diente nicht der inneren Befreiung oder Selbstentfaltung. Sie war dazu gedacht, die Häftlinge auszubeuten und zu schwächen. Bis zum Tod. 

In Reih und Glied

Der Blick geht gen Himmel. Das Wetter passt zum Ort. Es nieselt und ist ungemütlich kalt, ein eisiger Wind zieht durch die Reihen der Baracken.

Jule fröstelt es. Alles scheint eintönig braun zu sein – eine Backsteinbarracke reiht sich an die nächste. Das einzig Lebendige an diesem Ort sind die Bäume, die den Weg säumen. Gemeinsam mit der Gruppe betreten Jule und Mike eine der Baracken. Das Gebäude ist zum Ausstellungsraum umgebaut. An den Wänden finden sich große Vitrinen, voll mit persönlichen Gegenständen, die die Nationalsozialisten den Häftlingen entrissen haben. Hier türmen sich Berge von Koffern, Brillen, Porzellangeschirr und Prothesen aller Art. Aus Respekt vor den ehemaligen Häftlingen darf man hier nicht fotografieren.

In einem Raum findet sich ein gigantischer Haufen menschlicher Haare, die den Gefangenen bei ihrer Ankunft im Konzentrationslager abrasiert wurden. Daneben eine kleinere Vitrine, in der unter anderem eine Rolle Schnur und ein Ballen Stoff liegen, die aus ebendiesen Haaren produziert wurden. Allein in Auschwitz machte die SS mehrere Hundert Millionen Gewinn mit den Habseligkeiten der Opfer.

Wieder einen Raum weiter stapeln sich Schuhe aller Größe und Farbe. Braune, schwarze und rote Lederschuhe, Sandalen, Kinderschuhe. Jule muss schlucken. Lange bleibt sie vor der Vitrine stehen. Später sagt sie: „Jedes dieser Paar Schuhe gehörte zu einem Menschen.  Ich habe versucht, die Persönlichkeiten abzulesen, habe mich gefragt: Zu wem gehörte welcher Schuh? Wer war das?“

Jule und Mike hören aufmerksam der Führung zu
Die Backsteinbaracken in Auschwitz
Jule vor den Portraits der Häftlinge
Die schwarze Todeswand im Konzentrationslager, vor der 20 000 Menschen erschossen wurden.

Territorium des Todes

Einen besseren Eindruck von den Persönlichkeiten der ehemaligen Häftlinge erhalten Jule und Mike im Flur der Baracke. Dort hängen Portraitfotos der inhaftierten Menschen. Lauter kleine Bilder in schwarzen Rahmen. Unter den Gesichtern sind die Namen der Menschen zu lesen, darunter ihre Häftlingsnummer, ihr Geburtsdatum, das Datum der Ankunft in Auschwitz und ihr Todesdatum. Mike macht mich auf ein Foto aufmerksam, das er von seinem ersten Besuch vor zehn Jahren in der Gedenkstätte wiedererkennt. Es handelt sich um die Polin Katarzyna Kwoka, die im Dezember 1942 nach Auschwitz deportiert wurde und zwei Monate später dort starb.

Es gibt eine kurze Pause für die Jugendlichen. Viele setzen sich auf den Schotterweg. Alle schweigen. Niemand spricht. Viele haben Tränen in den Augen.

Dann wird die Gruppe zu einem Innenhof geführt, der zwischen den Baracken 10 und 11 liegt. Vor Kopf, steht eine schwarze Wand aus Isolierplatten – die sogenannte Todeswand. Vor dieser Wand wurden Tausende Menschen erschossen, auch minderjährige und alte Häftlinge. In diesem Hof ist es ganz still. Einige legen Blumen ab und werden stumm im Gedenken. Auch Mike ist von diesem Ort tief berührt, er sagt: „Ich stehe unmittelbar dort, wo über 20 000 Menschen erschossen wurden. Ihr Blut ist in den Boden geflossen, auf dem ich nun stehe, dieser Gedankengang beschäftigt mich sehr. Ich fühle mich hier als Teil der Geschichte.“

Von Kinderhand gezeichnet

Als er sich Mike von dem Ort losreißen kann, ist die Gruppe schon ein Stück weiter gegangen. Zu einem Ort, an dem die Grausamkeit von Ausschwitz nochmal anders zu erfahren ist: den Untersuchungsräumen des Lagerarztes Josef Mengele. Ein Arzt, der keine Knochenbrüche oder Rückenschmerzen untersucht hat. Mengele interessierte sich für Zwillingspaare, die er sich aus den ankommenden Zügen aussuchte. Er wollte an ihnen die Widerstandsfähigkeit des menschlichen Körpers testen. Jule bleibt vor einem Foto stehen: Vier junge jüdische Mädchen, starren abgemagert und verängstigt in die Kamera. Ihre Furcht stimmt Jule nachdenklich, sie sagt: „Ich finde es furchtbar, dass niemand die Kinder beschützt hat. Die Eltern hatten keine Chance ihre Kinder zu beschützen und sonst hat es auch niemand versucht.“ Die vier Mädchen wurden nach der Operation ermordet.

Um die inhaftierten Kinder geht es auch im nächsten Raum. Er ist weiß gestrichen, kaltes Licht fällt durch die Fensterfront in den Raum, hinter den Fenstern liegen die Baracken. Auf den ersten Blick ist der Raum völlig leer. Erst auf den zweiten entdeckt man die kleinen Zeichnungen an den Wänden. Sie sind auf einem Meter Höhe mit Bleistift an die Wände gemalt, einmal ringsherum. Ein Meter, das ist Kinderaugenhöhe. Die feinen grauen Linien zeigen ganz unterschiedliche Motive: Zunächst Blumen und Tiere, spielende Kinder und Klassenräume mit Lehrerinnen, Schülern und Tafeln. Dann Galgen, bewaffnete Soldaten und Erschießungen.

 Die israelische Künstlerin Michal Rovner hat sie auf die Wände übertragen, doch eigentlich stammen die Zeichnungen von Kindern, die im Konzentrationslager inhaftiert und ermordet wurden. Für Jule zeigen diese Bilder, wie viel die Kinder im Konzentrationslager verstanden haben. Dass sie einordnen konnten, was um sie herum geschah.

Mike bleibt am Fenster stehen. Er schaut hinaus zu den Baracken, dann bleibt sein Blick an der Zeichnung eines Vogels hängen, der ebenfalls nach draußen blickt. Seine Faszination kann der 23-Jährige schnell erklären: „Für mich ist Musik super wichtig im Leben. Wenn es mir schlecht geht, dann höre ich Musik. Sie zeigt mir oft, dass ich nicht allein bin, indem was ich fühle. Das finde ich in diesem Vogel wieder. Hinzukommt, dass der Vogel direkt neben dem Fenster sitzt und aus dem Fenster schaut – in den Himmel, in die Freiheit.“ 

Im Gegensatz zu den Häftlingen können die Roverinnen und Rover das ehemalige Konzentrationslager verlassen. Doch auch sie sind gezeichnet. Vor dem Ausgang herrscht Stille. Einige umarmen sich, die meisten schweigen. Mike hat sich zu Raphael gestellt, der das Empfinden aller präzise in Worte fasst: „Ich glaube, wir stehen alle ganz schön neben uns.“ Jule stimmt dem zu. Sie sei nicht überfordert mit ihren Gefühlen, sie könne schlichtweg nicht beschreiben, wie sie sich fühle.

Diese Kinderzeichnung zeigt die Erschießung von Häftlingen
Der kleine Vogel, der aus dem Fenster in die Freiheit schaut, hat Mike besonders angesprochen.
Mike folgt dem Blick des Vogels

Auch im Bus auf dem Rückweg nach Krakau ist es sehr still. Schließlich winkt Mike mich zu sich rüber, wir kommen ins Gespräch. Er hat sich viel Gedanken gemacht zu diesem Tag und zu diesem Ort: „Durch den Besuch der Gedenkstättenfahrt sind wir alle zu Botschafterinnen und Botschaftern geworden. Ich muss dabei an ein Zitat von Oscar Schindler denken, das ich gestern im Museum gelesen habe: ,Ein Leben ist erst etwas wert, wenn man Leben rettet.‘ Das kann ich auch mit dem verknüpfen, was Baden-Powell, der Gründer der Pfadfinderbewegung, gesagt hat: ,Verlasse einen Ort ein bisschen besser, als du ihn vorgefunden hast.‘“. Mike stockt, denkt noch einmal nach: „Aber hier ist ein bisschen nicht genug, wir müssen mehr machen.“

Mix

  • Gegen das Vergessen.

    Gegen das Vergessen.

    Die Rover Mareike und Florian über ihre Lehren aus dem Besuch der Gedenkstätten Auschwitz und Auschwitz-Birkenau
  • Der Boden

    Der Boden

    Ein Text von Nadine Bartholome über ihre Erfahrungen in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau anlässlich des Gedenktages am 09.11.2021
  • Auf eine Limo mit ...

    Auf eine Limo mit ...

    ... Robert Steinhoff