Als Bestatter blickt Christoph Kortstiege in die Seelen und Wohnzimmer Bielefelds
Dass Janosch und die Tigerente auf dem Sarg waren, daran erinnert sich Christoph Kortstiege bis heute. Der 32-Jährige geht damals noch zur Schule. Im Bestattungshaus seines Vaters bekommt er zum ersten Mal einen Fall hautnah mit: Ein 13-jähriges Mädchen erkrankt an Leukämie. Ihr Tod ist absehbar. Der Vater des Mädchens kommt Wochen vorher in das Unternehmen. Er malt den Sarg an, mit dem seine Tochter später aus dem Krankenhaus zum Bestatter überführt wird.
»Der Tod eines Angehörigen reißt eine Wunde in uns auf. Durch die Trauer helfen wir, die Wunde langsam zu heilen. Eine Narbe wird immer bleiben.«
Christoph Kortstiege
Bestatter aus Bielefeld
An viele Sterbefälle könne er sich lückenlos erinnern, sagt Christoph Kortstiege. Der 32-Jährige hat mittlerweile das Familienunternehmen übernommen. Korstiege ist verheiratet und erwartet ein Kind. Wir besuchen ihn im Bestattungshaus der Familie in Bielefeld. Im weißen Hemd, Anzughose und Lackschuhen öffnet Christoph Kortstiege die Tür. Die schwarzen Haare hat er nach hinten gegelt. Wir begleiten ihn heute bei einer Beerdigung mit Heiliger Messe.
Bis der Gottesdienst um elf Uhr anfängt, ist noch etwas Zeit. Deswegen gibt’s eine kleine Führung durch das Bestattungsunternehmen. Auf den Fluren riecht es nach Holz - wie im Möbelhaus. Eine breite Treppe führt eine Etage tiefer. Der Auszubildende Simon Wellenbrink kommt uns entgegen. Er ist fast zwei Meter groß, schlaksig, trägt kurze schwarze Haare und ein weißes Hemd.
Durch die Tür sehen wir die Mitarbeiterin Linda Bönker. Im grünen Overall mit blauen Plastikhandschuhen steht sie hinter einem Metalltisch. Mit blauen Tüchern reinigt sie Metallwerkzeug. Gerade haben die beiden eine verstorbene Frau gewaschen und angezogen. Ihre Leiche ruht nun in der Kühlung.
Christoph Kortstiege führt uns ins Büro. Dort zeigt er uns ein Bild der Verstorbenen. Darauf ist sie vielleicht Anfang 30, trägt die braunen Haare bis über die Schulter und ihr Hochzeitskleid. Kortstiege erzählt, dass sie mit einer Krankheit gelebt hat, die normalerweise nicht tödlich endet. Ihr Zustand hat sich immer weiter verschlechtert. „Vor drei Wochen hat man ihr gesagt: Du hast noch ein Jahr. Dann ging es schneller“, sagt der 32-Jährige. Er presst die Lippen aufeinander und guckt auf den Boden.
Als Bestatter begleitet er Menschen in der Trauer. Zur Professionalität gehört es, über Gefühle zu sprechen - und eine Distanz zu wahren, um nicht alles an sich heranzulassen.
»Manche Menschen wollen einen Toten nicht sehen, damit sie nicht mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert werden.«
Christoph Kortstiege
Bestatter
„Man sah der Frau das Leiden an“, ergänzt Simon Wellenbrink. Zahlreiche Narben und Ausgänge deuten auf Operationen hin. Die Frau ist seit über einer Woche tot. Wenn das Herz-Kreislauf-System zum Stehen kommt, entstehen dunkle Flecken an Rücken, Fingernägeln und Ohrläppchen. Da die Körper gekühlt werden, verlieren sie Flüssigkeit und ziehen sich zusammen. „Mit einem Verstorbenen sollte man würdevoll umgehen. Ich weiß genau, dass ich da auch liegen könnte“, sagt Simon Wellenbrink.
Eher Alltagsgeschäft ist dagegen die Beerdigung, zu der uns der Bestatter heute mitnimmt. Der Mann ist mit 78 Jahren verstorben. Christoph Kortstiege kennt ihn nicht nur aus der Kirchengemeinde gut. Die Eheleute waren vor Jahren zum Vorsorgegespräch bei ihm. Damals waren beide noch fit und die Kinder wohnten längst nicht mehr in Bielefeld. Die Eheleute haben geklärt, was passiert, wenn einer von ihnen stirbt. Sie suchten sich das Modell für die Urne, den Friedhof und die Anzeige für die Zeitung aus. Auch eine Gedenkseite auf der Website des Bestatters wollten die beiden einrichten.
Ein Blick auf die Uhr. Viertel vor elf. Christoph Kortstiege schmeißt sich ein Sakko über. Er und Azubi Simon Wellenbrink steigen in einen grauen Familienwagen, um zur Kirche St. Liborius zu fahren. Aus der Garage daneben blickt die Schnauze eines schwarzen Jeeps mit lila Streifen. „Mein Ausgleich am Wochenende“, sagt Kortstiege. „Damit geht’s in den Matsch. 4,5 Liter. Allrad. Höher und Breiter gelegt. Recaro-Schalensitze. Abfahrt.“ Als ein Bekannter von ihm gestorben ist, hat er sich gewünscht, dass seine Urne mit diesem Jeep zum Friedhof gebracht wird.
In der St. Liborius Kirche spielt der Organist sanfte Töne. Die Bänke sind zur Hälfte besetzt. Zwei Frauen im schwarzen Blazer umarmen sich und halten einen kurzen Plausch. Die Frau des Verstorbenen sitzt im Rollstuhl neben der ersten Reihe. Christoph Kortstiege verteilt Kondolenzkärtchen. Die Messe beginnt, der Bestatter schließt die Eingangstür. Ein Priester aus der Familie feiert die Beerdigung. Eine Solistin singt. Alles so, wie es der Verstorbene wollte.
Urne vs. Sarg
Christoph Kortstiege hat in seinem Betrieb zu 75 Prozent Urnenbestattungen. Rechnet man alle Kosten zusammen, bezahlt man für eine Urnenbestattung in Bielefeld 3.000 bis 5.000 Euro. Für die Bestattung im Sarg samt Friedhofskosten sind es 5.000 bis 8.000 Euro.
Während die Angehörigen die Messe feiern, parken die Bestatter aus und fahren zurück ins Büro. Über die Freisprechanlage klingelt das Handy. Eine Frau mit kratziger Stimme ist dran. Sie erzählt, dass sie das Geld für die Bestattungsvorsorge überwiesen habe. Ob das Geld bei der Treuhandgesellschaft angekommen ist? „Ich bin mit dem Geld in den Urlaub gefahren“, scherzt Kortstiege. Er versichert, dass er nachfragen werde.
Im Büro angekommen ruft er einen Mitarbeiter der Treuhandgesellschaft an. Das Geld ist da, die Frau beruhigt. Da es keine Unterstützung mehr vom Staat für die Beerdigungskosten gibt, sorgen viele Menschen vor. Als Bestatter erfährt Christoph Kortstiege nicht nur etwas über die finanzielle Lage der Menschen. Er blickt in ihre Wohnzimmer.
Er sieht, wie viele Familienfotos an den Wänden hängen. Ob frische Blumen auf dem Tisch stehen. Dreckige Wäsche herumliegt. Die Küche ungepflegt ist. Er erfährt, dass es für viele Angehörige tröstend ist, wenn ein Mensch Zuhause verstirbt. Das würde er selbst auch gern. „Mit über 75 abends auf dem Sofa sitzen, die Enkelkinder um einen rum, und am nächsten Morgen nicht aufwachen“, schildert Christoph Kortstiege. „Die Chancen dafür stehen aber eher schlecht.“ In der Stadt sterben die meisten Menschen im Krankenhaus oder Pflegeheim.
Die sieben leiblichen Werke der Barmherzigkeit
- Hungrige speisen
- Durstigen zu trinken geben
- Fremde aufnehmen und beherbergen
- Nackte bekleiden
- Gefangene besuchen
- Tote bestatten
Die Werke zeigen, dass Glauben nicht nur heißt, dass man betet und in den Gottesdienst geht. Jesus hat uns den Auftrag gegeben, den Nächsten zu lieben wie uns selbst und uns für den Nächsten einzusetzen. Um das ins Gedächtnis zu rufen, hat Papst Franziskus von 2015 bis 2016 das Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen.
Zwei Kerzenständer, einen Engel aus Wachs und Plastikpflanzen laden Christoph Kortstiege und Simon Wellenbrink in den silbernen Multivan des Bestattungsunternehmens. Ein Bild des Verstorbenen und seine Urne stehen schon im Kofferraum. Die Bestatter fahren zum Friedhof am Jahnplatz, direkt gegenüber vom Bielefelder Rathaus. Die Trauerhalle dekorieren die Bestatter mit Kerzen, Schalen und Rosenblättern.
»Die Angehörigen können sich noch 20, 30 Jahre später an eine Beerdigung erinnern.«
Christoph Kortstiege
Bestatter aus Bielefeld
Währenddessen schaufelt draußen ein Mitarbeiter der Friedhofsgärtnerei. Er buddelt das Loch für die Urne. Fünf Minuten braucht er dafür. Urnenbestattungen sparen Zeit und Geld. Für eine Sargbestattung hätte er mit dem Kleinbagger anrücken müssen. Die Ehefrau des Verstorbenen zahlt anstatt einer Gruft nur einen Quadratmeter Fläche auf dem Friedhof. Das Grab muss sie fast nicht pflegen. Kortstiege: „Die alten Menschen haben sich früher um die riesen Gräber ihrer Eltern gekümmert. Die sagen heute: Mach ein kleines Grab. Ich möchte nicht, dass das meinem Ehepartner zu Lasten kommt, wenn die Kinder nicht in Bielefeld wohnen."
Für Christoph Kortstiege ist seine Arbeit ein Dienst, den auch die Kirche kennt. „Tote bestatten“ – das ist eines der sieben leiblichen Werke der Barmherzigkeit. „Die Menschen können sich 20, 30 Jahre später noch an die Verabschiedung und Beerdigung erinnern“, sagt er. Worauf er den Angehörigen keine Antwort geben kann? Was nach dem Tod kommt. Kortstiege selbst ist katholisch und geht regelmäßig in die Kirche. Er hoffe schon, dass etwas nach dem Tod kommt. Etwas Konkretes vorstellen kann er sich aber nicht. Glauben ist eben nicht wissen.