"Ich will dem höchsten Herrn dienen"
02.11.2015

"Ich will dem höchsten Herrn dienen"

SAINTS4LIFE: Heiliger Christopherus

Von Isabella Henkenjohann

Es ist Punkt 14 Uhr. Ich schalte den Fernseher ein - Zeit für die Nachrichten. Über den Bildschirm flackern Bilder aus Ungarn, Slowenien, Kroatien. Auf der Balkanroute tausende Menschen, Zäune, Polizisten, Soldaten - Szenen, die Trauer, Angst und auch Wut widerspiegeln. Ich krampfe innerlich zusammen. Diese Grenzen sind weit weg und doch so nah. Wenn ich doch bloß umschalten, mir eine Komödie anschauen könnte - aber das Leben ist kein Fernseher.

Auch wenn ich jetzt wegschauen könnte, weil ich heute noch bequem den Fernseher ausschalten könnte, von meinem Sofa aus, ohne mich dabei nur einen Zentimeter bewegen zu müssen - ich tue es doch nicht. Ich kann einfach nicht wegschauen. Die vielen Kilometer Marsch sieht man den Flüchtlingen an. Die Gesichter müde, die Körper gebeugt. Der Reporter sagt, es sei kalt, 9 Grad. 9 Grad hat mir mein Thermometer heute früh auch angezeigt. Es war kalt heute. Und dann zeigen sie Bilder von Menschen, die bis zur Brust im Wasser stehen. Ein Grenzfluss. Sie sind jetzt in Kroatien. Die Menschen wissen es nicht. Das weiß nur der Reporter. An seiner Kamera laufen die vorbei, die es aus dem Wasser geschafft haben, triefnass, zitternd, blick- und wortlos. Kinder, Frauen, Männer. Sie wollen nur eins: vorankommen.
SAINTS4LIFE

In der Menge sehe ich plötzlich einen Rücken. Ein einzelner, groß gewachsener Mann watet durch den Fluss, in die entgegengesetzte Richtung. Meine Augen folgen seinen schnellen Schritten durch das Wasser. Er fängt eine taumelnde Frau auf, hebt ein Kind auf die Schultern eines anderen. Als er am anderen Ufer ankommt, greift er sich ein Kind aus der Menge und setzt es auf seine Schultern, läuft auf die Kamera zu. Er ist der Erste, der sie zu sehen scheint. Er blickt sie an, er schaut mich an … „Ich kann gar nicht anders, ich will dem höchsten Herrn dienen“, sagt er mir. „Wem denn“, frage ich ihn, „dem Staatspräsidenten vielleicht?“ Er grinst und erwidert: „Ach, er und seine Kollegen, die haben doch alle Angst vor irgendetwas, und sei es vor Flüchtlingen. Nein, sie können nicht mein Herr sein. Mein Herr hat … keine … Angst.“ Die letzten Worte sind nur noch ein leises Stöhnen.

Der kleine Junge auf seinen Schultern krallt seine Hände mit der ganzen kindlichen Kraft, die er besitzt, in den Nacken des Mannes. Seine Schritte werden langsamer, schwerer. Plötzlich taumelt er, sinkt ins Wasser. Ich springe vom Sofa auf. Wo ist er? Ich sehe nur noch den Jungen, schreiend, mit den Armen um sich schlagend. Nach einer gefühlten Ewigkeit taucht er wieder auf und schnappt sich den Jungen. „Es ist alles gut, ich bin da“, sagt er nicht nur ihm, sondern auch mir. Ich sinke in mich zusammen. Ein Glück. Die letzten Meter bis zum Ufer scheint er durch das Wasser zu rennen. Als er das Ufer erreicht, sagt er: „Es gibt nichts größeres als einen Dienst für den Größten“, dreht sich um und geht zurück … „Und nun das Wetter …“, sagt die Nachrichtensprecherin. Das Wetter? Aber gerade eben lief doch noch der erste Beitrag der Sendung?

Ich greife gedankenverloren zu meinem Schlüssel, der vor mir auf dem Wohnzimmertisch liegt. Ich muss los. Der runde Christophorus-Anhänger liegt schwer in meiner Hand. Christophorus … der, der Christus auf seinen Schultern durch den Fluss getragen hat. Plötzlich grinst mich der Mann aus dem Beitrag vor meinem inneren Auge wieder an. Ich weiß jetzt, wie er heißt …

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