Wie bekommen wir den Kopf frei?
08.06.2020
Miteinander

Kopf frei

Krankenhausseelsorgerin Gaby Kniesburges sagt, was hilft, um nicht vor Sorgen und
Herausforderungen den Kopf zu verlieren

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von Till Kupitz

Die Klassenfahrt, ein Urlaub oder Events wie Abibälle oder Abschlussfahrten: Trotz Lockerungen ist vieles wegen der Coronapandemie noch nicht möglich, es wird jungen Menschen genommen, worauf sie sich schon lange gefreut haben. "Daran kann ein junger Mensch verzweifeln, wenn er niemanden hat, mit dem er zusammen da durchgehen kann", erklärt Gaby Kniesburges, Krankenhausseelsorgerin am St. Marien Hospital in Marsberg. Ein Wort, das uns in dieser Zeit besonders oft begegne: Unsicherheit. Wie betrifft mich die Krise? Was bedeutet das auf Dauer für mein Leben? – Fragen, die uns fast alle beschäftigen,

Die Coronapandemie habe scheinbar vor allem auch mit empfundenem Verzicht zu tun, sagt Kniesburges. Gerade in Zeiten, da man andere Menschen gar nicht treffen sollte. "Viele stellen dann fest, wie wertvoll die Menschen sind, die ihnen vorher selbstverständlich waren. Das merke ich selbst in Gesprächen. Bei einigen Menschen denkt man: Eigentlich wäre ein persönliches Gespräch mit dem- oder derjenigen jetzt wichtig und wertvoll." Durch das Covid-19-Virus und die damit einhergehenden Beschränkungen lerne man deshalb, Menschen neu wertzuschätzen. Auf unbestimmte Zeit keine Freunde mehr treffen zu können, in Restaurants zu gehen oder in den Urlaub zu fahren, „das tut weh“, sagt die Seelsorgerin. Und je näher und aktueller die tatsächliche Krankheit an einem selbst ist, desto mehr schwingt auch Angst mit.

Gaby Kniesburges ist Krankenhausseelsorgerin in Marsberg
Gaby Kniesburges ist Krankenhausseelsorgerin in Marsberg

»Jugendliche und junge Erwachsene merken in so einer Phase vielleicht zum ersten Mal überhaupt: Hier passiert etwas, das ich in keinster Weise beeinflussen kann, etwas, dem ich ausgesetzt bin.«

GABY KNIESBURGES
über die Corona-Krise

Dann beginnt es auch im Kopf zu arbeiten. Die Gedanken drehen sich fast nur noch um die eigene Zukunft, Sorgen und Probleme. „In so einer Phase sind wir ganz auf uns geworfen. Wir merken, dass wir sehr stark von Außen gesteuert sind“, erklärt Kniesburges.

Der Situation ausgesetzt

Corona - was nun?

Ob Freizeitsport oder der Gang ins Theater oder Kino: „Das alles ist nicht mehr selbstverständlich und deshalb muss ich mich plötzlich mit mir selbst auseinandersetzen und schauen: Was brauche ich eigentlich, um gut durch den Tag zu kommen? Das fordert uns heraus“, schildert die Marsbergerin. Einige Menschen können besser damit umgehen, andere weniger gut. "Manche wissen dann nicht, was sie mit sich und ihrer Zeit anfangen sollen“. Das könne gerade auch bei jungen Menschen schnell zu einem großen Problem werden. Denn junge Menschen unserer Generation haben einen solchen Freiheitsverzicht zuvor selten oder noch nie miterlebt und können die Lage deshalb teilweise nicht so gut einordnen. „Jugendliche und junge Erwachsene merken in so einer Phase vielleicht zum ersten Mal überhaupt: Hier passiert etwas, das ich in keinster Weise beeinflussen kann, etwas, dem ich ausgesetzt bin“, beschreibt die Krankenhausseelsorgerin.

Wie man mit diesem Gefühl am besten umgehen kann? Laut Gaby Kniesburges hängt das von der individuellen Person ab. Und von dem persönlichen Umfeld: Habe ich einen Rückzugsort in der Familie? Oder vielleicht sogar Eltern mit Existenzängsten bedingt durch diese Krise? Ist jemand in der Familie in der Lage, die Konflikte zu steuern, wenn etwas zu „explodieren“ scheint? Denn auch das sei eine große Herausforderung in der Corona-Krise. „Verschiedene Charaktere und Leute, die unterschiedliche Bedürfnisse haben, prasseln in den Familien aufeinander, oft ohne sich ausweichen zu können. Da kommen auch schon mal Konflikte auf den Tisch, die schon lange in einem gebrodelt haben“, erklärt Kniesburges. „Wenn man dann niemanden hat, der das steuern kann, ist es schwer.“

Warum Ich und warum jetzt?

Schlimm wird die Phase für die Einzelnen unter Umständen auch durch das Nichtwissen, ob Abiball, Klassenfahrt oder der Urlaub noch nachgeholt werden können und wie lange das Coronavirus unsere Gesellschaft noch so lähmt. Der Gedanke an Verschieben beeinflusst anders als Ausfall. Deshalb sei es nicht selten, dass Jugendliche oder junge Erwachsene auch Alkohol als Flucht wählen. Alleine und im Verborgenen ist das eine ganz andere Situation als in und mit der Gruppe. Denn laut Kniesburges sei es einfach schwer auszuhalten, wenn alle die Jahre zuvor etwas machen durften, was einem selbst jetzt verboten wird. Dazu käme eben dieses „riesige Fragezeichen über die nahe Zukunft“: Kann meine Ausbildung rechtzeitig beginnen? Bekomme ich den Stoff aus der Schule nachgeholt? Was verliere ich für immer? Warum jetzt und ich?

Endlich wieder Freunde treffen – das hilft.
Treffen, schreiben, telefonieren.

Was hilft also, um den Kopf nicht zu verlieren?

Gaby Kniesburges meint: Immer Schritt für Schritt gehen. „Ich sollte morgens aufstehen und gucken: Was steht an? Was brauche ich heute, damit es mir gut geht? Welche Aufgaben gibt es heute und vielleicht auch morgen noch, was kann ich dafür schon vorbereiten?“ Sich so eine Struktur zu erarbeiten, sei ganz wichtig. Zu weit in die Zukunft zu blicken, würde oft nicht helfen: „Denn niemand weiß, was vorher vielleicht noch dazwischen kommt. Das müssen viele in so einer Phase erst einmal lernen.“ Für eine solche Struktur gibt es zwar kein Patentrezept, erklärt die Seelsorgerin, doch die Familie kann durchaus dabei helfen: verlässliche Tagesrituale, wie feste Essenszeiten und Arbeitsphasen zu haben, transparent zu machen, wenn es einem schlecht geht und sich in der Unterschiedlichkeit gegenseitig zu akzeptieren.

Zudem sollte jeder darauf achten, seine Freunde nicht aus dem Blick zu verlieren. Weil eben nicht jeder eine Struktur und genug Halt auch während der Pandemie von der Familie bekommen kann, ist es wichtig, dass der andere weiß: Da ist jemand für mich da. „Das hat auch etwas mit Wertschätzung zu tun. Und wenn es nur eine kurze WhatsApp-Nachricht ist“, erklärt Gaby Kniesburges. Es gehe darum, zu zeigen, dass der oder die andere mir selbst nicht gleichgültig ist. „Das ist in so einer Zeit gerade für Menschen mit weniger Kontaktpersonen sehr wichtig. An die muss man jetzt denken, damit sie in so einer Krise nicht untergehen.“

Gegen die Monotonie des Alltags helfe vor allem eines: bei aller Struktur, die wichtig ist auch überraschen und sich überraschen lassen. Einfach mal einen Schritt auf andere Menschen zugehen, Kontakt aufnehmen, sie einladen, selbst die Initiative ergreifen, erklärt Gaby Kniesburges. Natürlich immer unter den möglichen Gegebenheiten. Denn: „Der menschliche Kontakt ist auch in so einer Phase unfassbar wichtig und möglich.“

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