Jedes Mal, wenn ich das Vater Unser spreche, bete ich darum: dass das Reich Gottes kommen möge. „Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.“ Die Vorstellung vom Reich Gottes ist einer der Dreh- und Angelpunkte unseres christlichen Glaubens. Ob Himmelreich, Königreich oder Himmelsherrschaft genannt – die Bezeichnungen sind zahlreich, gemeint ist dasselbe. Aber was steckt da eigentlich hinter? Was ist das Reich Gottes und vor allem: Was hat das konkret mit mir zu tun?
Der Hintergrund für die Vorstellung vom Reich Gottes findet sich im Alten Testament. Dort wird der Gott Jahwe als König dargestellt, der auf dem Berg Zion thront. Das Königreich Jahwes ist überall, denn er hat die ganze Welt erschaffen. Jahwe herrscht als König über seine Schöpfung und sorgt für Gerechtigkeit.
Diese Vorstellung vom Königreich Gottes steht bei Jesus im Zentrum seines Wirkens und seiner Botschaft. Eine theoretische Definition, was das Reich Gottes genau ist, gibt Jesus nicht. Aber an seinem Verhalten und in seinen Reden wird deutlich, was er unter dem Reich Gottes versteht: Gottes Wirken unter den Menschen. Jesus sieht sich selbst als Boten dieses Gottesreiches und verkündet es vor allem den Schwachen, Armen, Kranken und Ausgegrenzten.
Auch wenn die Bezeichnung „Himmelreich“ es nahe legt: Das Reich Gottes bezeichnet kein abgegrenztes Territorium im Himmel. Es geht vielmehr um ein dynamisches Geschehen. Um etwas, das wächst. Und zwar in der Welt zwischen Gott und Mensch, aber auch bei den Menschen untereinander. Das Reich Gottes ist ein Weg, der sich und auch die Gehenden im Gehen verändert.
Dieser Weg beginnt damit, dass Jesus den Anbruch des Gottesreiches verkündet: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.“ (Mk 1,15) Dieser Satz ist der Kern der Botschaft vom Reich Gottes. Jesus macht deutlich: Das Reich Gottes ist keine ferne Wirklichkeit, sondern schon jetzt mitten unter uns. Das Reich Gottes ist ein Zuspruch an jede und jeden. Ein Geschenk Gottes: seine unbedingte Liebe zu jedem Menschen.
Der Satz aus dem Markusevangelium geht aber noch weiter: „Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ Es bleibt also nicht nur bei diesem Zuspruch, sondern das Reich Gottes ist auch ein Anspruch, eine Aufgabe. An jeden Menschen. Das Evangelium bildet die Richtschnur für das eigene Handeln.
Jesus sprach: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!«
Mk 1,15
Jesus über den Anbruch des Gottesreiches
Wie dieser Anspruch konkret aussehen kann, zeigt Jesus mit verschiedenen Bildern: z.B. das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32), der barmherzige Samariter (Lk 10,25-37), die Arbeiter im Weinberg (Mt 20,1-16). Das sind nur drei Beispiele von vielen. Was Jesus damit sagen will? So zeigt uns z.B. der barmherzige Samariter: Berührtwerden vom Leid des anderen, Anteilnahme, Mitleid, Helfen – dem anderen Menschen zum Nächsten werden. Das ist ein Anspruch, der mit dem Reich Gottes verbunden ist.
Das Reich Gottes ist wie ein Senfkorn, das klein in die Erde fällt und dann wächst (Mt 13,31-58). Es meint die fürsorgliche Zuwendung Gottes zu den Menschen. Und zwar ausnahmslos zu allen Menschen. Das Reich Gottes ist wie eine offene Tischgemeinschaft: Alle sind eingeladen und niemand ist ausgeschlossen. Beim Reich Gottes geht es aber nicht nur um das Verhältnis des Einzelnen zu Gott, sondern auch um das Verhalten der Menschen untereinander.
Die Vorstellung vom Reich Gottes verändert unsere Sicht auf die Wirklichkeit und Welt. In unserer gegenwärtigen Gesellschaft geht es um Anerkennung, Macht, Leistung und Reichtum. Das sind die Kategorien der heutigen Zeit. Wer in diesen Kategorien denkt und lebt und arbeitet, der ist in unserer Gesellschaft ein Großer. Im Reich Gottes hingegen zählt das alles nicht. Da gelten andere Kategorien: Freude, Gerechtigkeit, Friede, Versöhnung, Nächstenliebe, Fürsorge, Gemeinschaft und Freiheit. Frei sein von Zwängen, Ängsten und Leiden. Reich Gottes heißt darauf zu vertrauen, dass Gott das Gute für jeden Menschen will und ihn dahin führt. Traurigkeit, Streit, Hass und Einsamkeit haben im Reich Gottes keinen Platz.
Zwischen diesen Kategorien des Reiches Gottes und der Realität, in der wir leben, zeigt sich allzu oft ein großer Unterschied. Das Reich Gottes ist zwar schon angebrochen, aber es ist noch nicht vollendet. In der Theologie spricht man von der Spannung zwischen 'schon angebrochen' und 'noch nicht vollendet'. Das Reich Gottes ist schon da, also gegenwärtig, aber seine Vollendung steht noch aus, liegt also in der Zukunft. Der christliche Glaube vertraut darauf, dass Gott selbst sein Reich in der Zukunft vollenden wird. In diesem Reich sorgt Gott für das glückende Leben des Menschen. „Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.“ (Offb 21,4)
Das Reich Gottes ist keine militärische Herrschaft mit Thronen, Armeen und Streitwagen. Es ist auch nicht die institutionalisierte Kirche mit Bischofsstühlen, Theologenscharen und Papamobilen. Das Reich Gottes ist viel größer.
Was heißt das jetzt alles konkret für mich, meinen Glauben und Alltag? Das Reich Gottes hat mit meinen Wirklichkeitserfahrungen, Herausforderungen, Hoffnungen und Ängsten zu tun. Das, was mich in meinem Alltag bewegt, gehört auch zu meinem Glauben. Leben und Glauben sind untrennbar. Und: Jede Christin und jeder Christ hat den Auftrag, am Reich Gottes mitzubauen. Sich in den jeweiligen Lebenssituationen für andere Menschen einzusetzen.
Wie das aussehen kann? Um diese Frage zu beantworten, kann mir das Gebet helfen. Ich nehme mir Zeit und Stille, um auf die biblischen Erzählungen zu Jesus und seiner Botschaft vom Reich Gottes zu schauen. Dabei frage ich mich immer wieder: Was ist dieses Reich Gottes, das Jesus verkündet, und wie kann ich mit meinen Talenten und Möglichkeiten dazu beitragen, dass das Reich Gottes auf der Erde wächst? Das Reich Gottes ist eben keine jenseitige Wirklichkeit, sondern gehört zu meinem konkreten Leben als Christin, als Christ in der Welt von heute. Dort, wo ich gerade lebe. Mit den Menschen, die mich umgeben. Hier und Jetzt.