Gedächtnisverlust ist ein frühes Symptom einer Demenz
21.09.2023

DEMENZ

Opas Reise in eine andere Welt

Welt-Alzheimertag: Wie Demenz das Leben verändert und es trotzdem lebenswert bleibt

Die Diagnose „Demenz“ stellt alles auf den Kopf. Das Leben der Betroffenen und Angehörigen. Nichts wird mehr sein, wie es war. Es ist ein langsamer Weg ins Vergessen, in eine andere Welt. In Deutschland lebten zum Ende des Jahres 2021 fast 1,8 Millionen Menschen mit Demenz. Rund 440.000 davon sind in dem Jahr neu hinzugekommen. Und vor allem: Die Wahrscheinlichkeit an Demenz zu erkranken, nimmt immer mehr zu. Die deutsche Alzheimer Gesellschaft weist darauf hin, dass nach aktuellen Schätzungen im Jahr 2050 in Deutschland bis zu 2,8 Millionen Menschen über 65 Jahren an Demenz erkrankt sein könnten, wenn kein Heilmittel gefunden wird.

Wie verändert Demenz das Leben der Betroffenen? Wie geht es Angehörigen mit der Diagnose? Einer dieser Betroffenen ist auch Richard (86)*, der Großvater von Elias (22). Zum Welt-Alzheimertag hat Elias seine Erfahrungen in einem Brief an seinen Opa mit uns geteilt.

*Anmerkung: Die Namen wurden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes von der Redaktion geändert.

Demenz

Demenz ist eine fortschreitende, chronische Störung der intellektuellen Fähigkeiten und Persönlichkeitsfunktionen. Insbesondere von Lernen und Gedächtnis, Denken und Urteilen, Orientierung, Sprache und Rechnen. Der Krankheitsverlauf ist individuell verschieden, aber der Gedächtnisverlust ist eines der häufigsten und frühesten Symptome. Die häufigste Form von Demenz ist die Alzheimererkrankung. Bislang gibt es keine Therapiemöglichkeit für Demenz. Das zentrale Anliegen der Begleitung Demenzkranker ist daher eine möglichst hohe Lebensqualität.

Als Opa vergesslich wurde

Lieber Opa!
Seit über 20 Jahren kennen wir uns nun schon. Genauer gesagt: Seit meiner Geburt. Wir haben im selben Haus gewohnt, uns täglich gesehen, Urlaube gemeinsam verbracht. Nach meinem Abi bin ich zum Studium in eine andere Stadt gezogen, an den Wochenenden haben wir uns trotzdem häufiger gesehen.

Aber irgendwann wurden unsere Begegnungen anders. Ich kann gar nicht mehr sagen, wann es sich genau verändert hat. Alles fing damit an, dass du mich auf einmal mit Sven verwechselt hast, deinem Sohn und meinem Vater. Du dachtest, ich hätte die Ausbildung gemacht, die er damals nach der Schule gemacht hatte. Dachtest, ich wäre dein Sohn.

Wenn man dir etwas erzählt hat, hattest du es nach ein paar Minuten schon wieder vergessen und hast nochmal gefragt. An alltägliche Dinge wie den Wochentag konntest du dich manchmal nicht mehr erinnern. Anfangs haben wir immer gesagt: „Opa ist halt vergesslich geworden.“

Diagnose: Demenz

Am Anfang konnten wir dein verändertes Verhalten nicht verstehen. Aber irgendwann war klar: Du bist nicht einfach nur vergesslich, sondern du bist krank. Du bist dement. Das zu akzeptieren, war für mich sehr schwer. Ich wusste, dass es nun nie mehr sein würde wie vorher. Dass es kein Heilmittel für die Krankheit gibt. Du nie wieder gesund sein würdest. Und ich? Ich konnte nichts tun.

Demenz ist nicht gleich Demenz. Bei jedem Betroffenen verläuft die Krankheit anders. Aber schnell habe ich gemerkt, wie die Krankheit auch bei dir voranschreitet. Als wir uns einmal alte Fotos von Familienfeiern angeschaut haben, hast du auf einmal deine Kinder nicht mehr erkannt. Bei einem anderen Besuch hast du mich gefragt, wer denn eigentlich deine Ehefrau sei – Oma war zu dem Zeitpunkt schon einige Jahre verstorben. Als ich dir ein Foto gezeigt habe, hast du auch sie nicht erkannt. Du hattest das Bild einer jungen Frau im Kopf. Wie, als ob die Zeit viele Jahre zurückgedreht wäre. So dachtest du auch, dein Sohn würde gleich zum Mittagessen kommen – wie es früher immer üblich war, aber nun schon viele Jahre nicht mehr.

Menschen mit Demenz erkennen häufig Angehörige nicht mehr wieder

Ein langsamer Abschied

Es wirkt so, als wärst du auf einer Reise in deine eigene, ganz andere Gedankenwelt. Ich hab gehört, dass es bei allen Betroffenen von Demenz so ist. Sie befinden sich auf dem langsamen Weg ins Vergessen. Für die Angehörigen bedeutet das: Abschiednehmen. Obwohl die betroffene Person noch lebt, haben sie das Gefühl, den geliebten Menschen zu verlieren. Dieses Gefühl habe auch ich schnell gespürt. Bei jeder Verabschiedung habe ich mich gefragt, wie wohl unser nächstes Aufeinandertreffen verlaufen wird. Ob du mich überhaupt noch erkennen wirst.

In einem Buch habe ich einen Ausdruck gefunden, der unsere Situation gut auf den Punkt bringt: „Demenz ist eine Krankheit, während deren Verlauf […] man einen Menschen verliert. Ein Mensch stirbt mitten im Leben. Das ist Trauerarbeit, denn ich muss mich verabschieden von einem Menschen, der aber noch lebt. Und ich muss weiterleben mit einem Menschen, der mir immer fremder wird und dem ich fremd bin.“ Du, Opa, wirst mir immer fremder und ich werde dir fremd. Dieses Abschiednehmen ist schmerzhaft. Ich merke immer wieder: Du bist nicht mehr der Opa, mit dem ich aufgewachsen bin und du wirst es auch nie mehr sein. Aber: Du wirst trotzdem immer mein Opa bleiben!

Auch mit der Demenz wird Richard immer Elias' Opa bleiben

Die Stärken sehen

Manchmal frage ich mich, was wohl als nächstes passieren wird: Wirst du beim Spazierengehen nicht mehr den Weg nach Hause finden? Wirst du irgendwann nicht mehr selbst laufen und essen können? Werden wir dich bis zum Ende zu Hause pflegen können? Wirst du aggressiv werden?

Aber ich habe inzwischen gelernt, dass der Blick auf deine Defizite keinem hilft – dir nicht und auch uns Angehörigen nicht. Stattdessen blicke ich viel mehr auf das, was du immer noch gut kannst: Dass du noch jeden Tag in der Zeitung lesen kannst und so über die Geschehnisse in der Welt und unserem Ort informiert bist. Dass du noch täglich deinen kleinen Spaziergang in der Siedlung allein machen kannst. Dass du immer noch so gern Holzfiguren schnitzt. Dass wir noch gemeinsam Mensch-ärgere-dich-nicht spielen können. Dass dir der Glaube noch wichtig ist und du den Gottesdienst zuhause am Fernsehen mitfeierst. Ich bin sensibler geworden für die kleinen Momente: für ein kurzes Lächeln, das ich früher gar nicht wahrgenommen hätte. Für einen sanften Händedruck, eine Umarmung zum Abschied. Ich genieße unsere gemeinsame Zeit viel mehr.

Lebensqualität bis zum Schluss

Wenn es nach den Maßstäben unserer Leistungsgesellschaft geht, dann sind demenzkranke Menschen wie du nutzlos. Sie tragen zum Ertrag nichts bei und verursachen nur Kosten. Aber das menschliche Leben ist nicht einfach nur eine Kosten-Nutzen-Rechnung. Das Leben ist uns von Gott geschenkt – vom Anfang bis zum Ende. Daher ist auch das Leben mit Demenz lebenswert. Nochmal ein Satz aus dem eben erwähnten Buch: „Die wichtigste Medizin bei Demenz, über die wir bis heute verfügen, sind Liebe, Zuneigung und aufrichtiger Respekt.“

Egal, wie die Krankheit dich verändern wird, du wirst immer mein Opa bleiben und ich werde immer für dich da sein!

Dein Elias

Elias' Tipp

Elias hilft es, all die Erfahrungen mit seinem Opa, sowohl die schönen als auch die schmerzhaften, mit in seine Gottesbeziehung und sein Gebet zu nehmen. Eins seiner Gebete hat er für uns aufgeschrieben:

Guter Gott,
heute habe ich wieder einmal gespürt, dass unser Leben nicht in unserer Hand liegt. Dass es Dinge im Leben gibt, die ich nicht ändern kann – so wie Opas Demenz. Ich bin dankbar für die vielen erfüllten Jahre, die ich mit ihm schon verbringen durfte. Oft fällt es mir schwer, ihn langsam loszulassen.
Schenke Opa Kraft und trotz aller Beschwernisse der Krankheit ein gutes, erfülltes Leben – bis er irgendwann bei dir sein darf.
Hilf mir, dass ich ihn auf seinem Weg begleiten kann – in den schönen Momenten, aber auch dann, wenn es schwierig ist. Lass ihn spüren, dass er nie allein ist.
Sei du immer bei uns. Amen.

Lesetipp

Camp, Cameron J. (2015): Tatort Demenz – Menschen mit Demenz verstehen. Praxishandbuch für Demenz-Detektive.

Kurte, Andreas (2022): Sieben Jahre in Deiner Welt. Briefe an meinen demenzkranken Vater.

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