In diesem Artikel geht es um Missbrauchserfahrungen. Wenn du dich mit dem Thema nicht wohlfühlst, lies den Text nicht weiter oder nicht allein. Unten auf der Seite findest du Hilfsangebote, an die du dich bei Bedarf wenden kannst.
Geistlicher Missbrauch ist ein Schlagwort, das momentan häufig in der Kirche und in den Medien auftaucht. Es bezeichnet Fälle, in denen Seelsorgerinnen und Seelsorger im Namen Gottes ihre Macht missbrauchen. Sie verletzen die spirituelle Selbstbestimmung der ihnen anvertrauten Personen. Mehr über dieses Phänomen könnt ihr hier nachlesen. Von geistlichem Missbrauch kann jeder Mensch betroffen sein – ob Kind, Rentner, Ordensfrau, Familienvater, Jugendlicher. Woran erkenne ich missbräuchliche Strukturen und Verhaltensweisen? Und vor allem: Was kann ich selbst tun, um mich vor geistlichem Missbrauch zu schützen?
Grundsätzlich ist es wichtig, der eigenen Wahrnehmung zu trauen. Oft hilft es auch, sich mit anderen über die eigenen Erfahrungen auszutauschen oder sich einen Blick von einer außenstehenden Person zu holen. Wir haben sechs Kriterien zusammengestellt, an denen ich meine Glaubenserfahrungen, Begegnungen etc. überprüfen kann. Sie sind Anzeichen für gesunde und förderliche Spiritualitätsformen, Gemeinschaften, Beziehungen und Impulse, die mich vor einem geistlichen Missbrauch bewahren.
Einer der wichtigsten Aspekte für mein Leben und meinen Glauben ist die Freiheit. Bei geistlichem Missbrauch setzt der Täter oder die Täterin mich emotional unter Druck, zum Beispiel mit ihm oder ihr über meine Gedanken und Gefühle sprechen zu müssen. Und den Ratschlag, den der Täter oder die Täterin mir gibt, muss ich immer annehmen. Denn nur er oder sie weiß, was richtig für mich, mein Leben und meinen Glauben ist.
Doch: Ich bin frei darin, mit wem ich über meinen Glauben, meine Fragen, meine Zweifel sprechen möchte, wem ich davon erzähle. Und vor allem bin ich frei, den Ratschlag einer Person anzunehmen oder ihn auch ablehnen zu können.
Kann ich entscheiden, mit wem ich über meine Gedanken und Gefühle spreche und kann ich in Freiheit einen Ratschlag annehmen oder ablehnen, ohne hinterher ein schlechtes Gewissen zu haben?
Für Täterinnen und Täter von geistlichem Missbrauch gibt es häufig nur eine richtige Spiritualitätsform, die alle befolgen müssen, wenn sie wirklich im Glauben wachsen wollen. Alternativen dazu sehen sie nicht.
Doch: Es gibt so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt. Jeder Mensch hat seinen ganz individuellen Zugang zu Gott, Gebets- und Gottesdienstformen, die ihn ansprechen. Im Laufe der Zeit ändert sich die eigene Spiritualität, ich probiere vielleicht verschiedene Formen aus und finde so immer mehr meine eigene Gottesbeziehung. In der Kirche existieren diese vielfältigen Formen nebeneinander.
Sehe ich neben meinen eigenen Formen, meine Glauben zu leben, wie andere Menschen andere Spiritualitätsformen nutzen und darin in ihrer Beziehung zu Gott wachsen?
Sprache ist ein wichtiges Instrument für geistlichen Missbrauch. In missbräuchlichen Systemen wird häufig eine Sondersprache verwendet, die nur Eingeweihte verstehen. Worte erhalten eine neue Bedeutung, die Außenstehende nicht verstehen. Die Mitglieder der Gruppe werden nach und nach in diese Sprache eingeführt. Zudem wird oft ein starkes schwarz/weiß-Bild gezeichnet: In der Gemeinschaft ist alles absolut gut, alles außerhalb ist absolut schlecht. Eigene Wünsche, Selbstfürsorge und Individualität werden als nicht so wichtig abgestempelt.
Doch: Die Sprache soll mir eigentlich helfen, die eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen zu formulieren. Mit Worten kann ich mein eigenes Leben vor Gott bringen. Sprache soll nicht abwerten, sondern ein kritisches Denkvermögen ermöglichen.
Passt die religiöse Sprache zu meinem Sprachgebrauch und hilft mir das, was ich höre, differenziert auf die Welt zu schauen?
Besonders bei geistlichem Missbrauch in Gemeinschaften werden oft enge Grenzen gezogen. Die Mitglieder werden isoliert. Alte Beziehungen müssen nach und nach abgebrochen werden, im krassesten Fall sogar zur eigenen Familie. Es herrschen strenge Kontaktverbote zu Personen außerhalb der Gemeinschaft – entweder klar ausgesprochen oder subtil vermittelt. Auch die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen oder Gemeinschaften (innerhalb der Kirche), die eine andere Ausrichtung haben, ist nicht erwünscht. Diese innere und äußere Abschottung von der Welt scheint irreal, aber es gibt sie nicht nur hinter Klostermauern, sondern auch in anderen Gruppierungen.
Doch: Ein gutes Beziehungsnetz ist für jeden Menschen wichtig. Vor allem der Austausch mit Menschen, die anders denken als ich selbst, bereichert mich. Genauso ist es wichtig, sich mit Personen auszutauschen, die vielleicht Kirche und Religion kritisch gegenüber stehen oder denen das sogar völlig fremd ist.
Wie hat sich mein Beziehungsnetz verändert und wer beeinflusst mich dabei?
Täterinnen und Täter von geistlichem Missbrauch nutzen häufig eine stark emotional aufgeladene Atmosphäre, um ihre Opfer zu manipulieren.
Doch: Emotionen müssen sorgfältig unterschieden werden. Sie sind wichtig, um den eigenen Glauben zu leben und ihn auszudrücken. Aber nur weil mich eine Welle der Euphorie mitreißt, weil einfache Antworten und Lösungen begeistern, heißt das nicht, dass die Richtung stimmt. Ich sollte immer auch rational über Erfahrungen, Ratschläge und Vorstellungen nachdenken.
Muss ich etwas versprechen, das ich rational gar nicht überblicken kann und ersetzen Emotionen mein Denken?
In vielen Fällen von geistlichem Missbrauch versprechen die Täterinnen und Täter einfache Antworten auf schwierige Lebensfragen. Sie kennen die perfekte Lösung für mich. Die Vision ist ganz klar und ich muss mich nur ganz hingeben. Damit bauen sie eine idealisierte Parallelwelt auf, die mit meinem konkreten Leben wenig zu tun hat. Bin ich beispielsweise selbst oder in meinem Umfeld mit einer schweren Krankheit konfrontiert, wird diese von Täterinnen und Tätern oft spiritualisiert – sie erscheint dann als Wille Gottes oder für einen bestimmten Zweck. Die Parallelwelt ist wie eine Blase um mich herum. Sie hilft mir nicht dabei, mit meinen inneren Spannungen, Fragen und Zweifeln konstruktiv umzugehen, sondern führt mich eher dazu, darüber wenig nachzudenken.
Doch: Glaube und Alltagsrealität dürfen nicht voneinander getrennt werden. Glaube hat immer etwas mit meinem konkreten Leben zu tun. Das, was mich in meinem Alltag beschäftigt, sollte auch vor Gott einen Platz haben. Beim Glauben geht es nicht um spirituelle Leistungen, sondern um meine Lebenserfahrungen. Um mein Wachsen auf Gott hin. Der Glaube soll mir dabei helfen, meine komplexen inneren und äußeren Lebensrealitäten gut zu bewältigen.
Helfen mir geistliche Impulse dabei, meinen Glauben im konkreten Alltag zu leben – auch und vor allem bei Fragen und Zweifeln?
Ansprechpersonen:
Bistum Münster: https://www.bistum-muenster.de/startseite_rat_hilfe/geistlicher_missbrauch
Bistum Osnabrück: https://bistum-osnabrueck.de/kontaktdaten-fuer-betroffene-sexueller-oder-spiritueller-gewalt/
Ökumenische Initiative GottesSuche – Glaube nach Gewalterfahrungen: https://www.gottes-suche.de/
Literaturhinweise:
Fernández, Samuel (2021): Towards a Definition of Abuse of Conscience in the Catholic Setting.
Häuselmann, Johannes/Insa, Francisco (2023): Abuso di potere, abuso spirituale e abuso di coscienza. Somiglianze e differenze.
Kluitmann, Katharina (2019): Was ist geistlicher Missbrauch? Grenzen, Formen, Alarmsignale, Hilfen
Wagner, Doris: (2019): Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche.