18.10.2021
Politik

Niusia Horowitz-Karakulska: Die letzte Überlebende von Schindlers Liste

Roverinnen und Rover im Gespräch mit der Zeitzeugin

Von Lioba Vienenkötter

Vom 10. bis zum 15. Oktober waren 30 Roverinnen und Rover des DPSG Diözesanverbandes Paderborn auf einer Gedenkstättenfahrt in Polen, um unter anderem die Gedenkstätten Auschwitz und Auschwitz-Birkenau zu besuchen. Unsere Autorin Lioba war dabei, um für euch zu berichten.

Niusia Horowitz-Karakulska ist eine kleine Frau, doch sie strotzt vor Energie. Ganz locker hüpft sie, mit ein wenig Hilfe ihrer Dolmetscherin, auf die erhöhte Bühne und nimmt in einem Sessel Platz. Im Raum ist es mucksmäuschenstill, bei 37 jungen Menschen ist das schon eine Seltenheit. Die Dolmetscherin erklärt ihr, dass wir Pfadfinder seien – „Bravo!“, ruft Niusia, sie selbst sei ebenfalls Pfadfinderin gewesen, wenn auch nur für kurze Zeit.

Dann fängt sie an, ihre Geschichte zu erzählen, denn Niusia Horowitz-Karakulska ist eine Zeitzeugin. Sie hat die Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und weiten Teilen Europas am eigenen Leib erfahren müssen. Als Jüdin wurde sie mit ihrer Familie verfolgt und in mehrere Konzentrations- beziehungsweise Vernichtungslager gesperrt. Aber beginnen wir am Anfang.

Niusia Horowitz-Karakulska wurde 1932 als Tochter jüdischer Eltern in Krakau geboren. 1939 überfielen die Nationalsozialisten Polen und besetzten das Land. Die anti-jüdischen Gesetze, die in Deutschland bereits galten und die jüdischen Menschen alle Rechte entzogen, galten damit auch in Polen. Als die Nationalsozialisten begannen, Menschen jüdischen Glaubens gezielt zu verfolgen und in Ghettos und Arbeitslager zu deportieren, verrieten Nachbarn die Familie Horowitz an die Polizei.

Die gerade einmal Neunjährige, ihr jüngerer Bruder Ryszard und ihre Eltern wurden daraufhin 1941 ins Krakauer Ghetto jenseits der Weichsel geschickt. Mit 16.000 Menschen lebten die Familie dort zwei Jahre eng an eng auf einem Raum, der eigentlich für 3.500 gedacht war, bis das Ghetto aufgelöst und die Jüdinnen und Juden ins Arbeitslager Plaszow deportiert wurden. Niusia Horowitz-Karakulska erinnert sich vor allem an den Hunger, denn die Häftlinge bekamen immer zu wenig zu essen. Und sie erinnert sich an den Lagerkommandanten Amon Göth, der wie zum Spaß Häftlinge von seinem Balkon aus erschoss.

Niusia Horowitz-Karakulska sieht, wie Menschen erschossen werden

Vor allem wegen einer Szene, die sie durch ein Astloch der Holzbaracken beobachten konnte, kann sie noch heute oft nicht schlafen. Sie sah  Menschen, die neu ins Lager getrieben wurden. Sobald sie das Arbeitslager betreten hatten, wurden sie erschossen. „Sie kamen an und wussten nicht, was passiert“, erinnert sich Niusia zornig. Es sei ein Glück im Unglück gewesen, dass sie noch so jung war und nicht verstand, was dort passierte.

Während ihrer Gefangenschaft dort wurde die Familie für die Emaille-Fabrik Oskar Schindlers engagiert. Dessen Geschichte wurde 1993 von Steven Spielberg verfilmt. In diesem Film spielt auch Niusia eine wichtige Rolle: Sie durfte Schindler zu seinem Geburtstag im Oktober 1944 einen Kuchen überreichen und die Glückwünsche der beschäftigten Jüdinnen und Juden aussprechen: „Wir wünschen Ihnen alles Beste zum Geburtstag!“

Es sind die einzigen deutschen Worte, die Niusia Horowitz-Karakulska in dem Gespräch mit uns sprechen wird. Die Dolmetscherin übersetzt ihre polnisch-sprachigen Berichte. Als sie die Geburtstagsworte mit „Wir wünschen Ihnen alles Gute zum Geburtstag!“ wiederholt, protestiert Niusia und korrigiert sie. Auch an anderen Stellen widerspricht sie den Übersetzungen vehement. Sie erzählt ohnehin sehr lebhaft. Viele Szenen untermalt sie mit Gesten: Das Wasserglas wird zum Geburtstagskuchen, ihre schmalen Finger zeigen die Schleifarbeiten, die sie in Schindlers Fabrik verrichtete.

Die Arbeit in dieser Fabrik rettete ihr Leben. Denn als 1944 das Arbeitslager Plaszow aufgelöst wurde, schützte Oskar Schindler „seine“ Jüdinnen und Juden vor der Vernichtung im Konzentrationslager, indem er auf Listen festhielt, dass sie für seine kriegswichtige Produktion unabdingbar seien. Wie durch ein Wunder gelang es ihm auch, die Kinder der Familien auf seine Listen zu setzen. Trotzdem wurden die Jüdinnen und Juden nach Auschwitz deportiert, wo sie zwar nicht arbeiten, aber leben mussten. Niusia wurde dort zweimal für die Tötung in der Gaskammer ausgesucht, beide Male wurde sie von ihrer Mutter oder Tante gerettet, die die Wächterinnen bestachen. Heute ist Niusia Horowitz-Karakulska die letzte Überlebende von Schindlers Liste.

»He who saves one life, saves the world entire.«

Talmud

»Für mich war es ein großes Geschenk, mit ihr sprechen zu können.«

Anne-Sophie Schmuch
20, Roverin in der DPSG St. Marien Witten

Ihre Geschichte berührt die jungen Menschen im Raum. Sara Kremer aus dem Stamm St. Michael Siegen sagt später: „Das Gespräch war super spannend und ich fand es sehr interessant, wie lebhaft die Zeitzeugin ihre Erfahrungen rüber gebracht hat. So konnten wir wirklich einen Eindruck davon bekommen, wie das Leben damals war und wie sie ihr Leben nachher gestaltet hat.“ Anne-Sophie Schmuch aus der DPSG St. Marien Witten stimmt ihr zu: „Für mich war es ein großes Geschenk, mit ihr sprechen zu können. Obwohl wir eine Dolmetscherin hatten, die in die deutsche Sprache übersetzt hat, hat es mich viel mehr bewegt, was Niusia gesagt hat, auch wenn ich kein Wort Polnisch verstehe. Ihre Gestik und ihre Mimik allein haben schon zur Geltung gebracht, was sie uns sagen wollte und was sie auch geschichtlich vermitteln wollte. Überraschend, dass es für manche Dinge keine Übersetzung braucht.“

Nach dem Krieg zog Niusia Horowitz-Karakulska mit ihrer Mutter zurück nach Krakau. Zunächst erhielten sie die Nachricht, ihr Vater und Ryczard seien ermordet worden, dann konnten sie die beiden aber doch aufspüren. Niusia gründete später ihre eigene Familie und blieb in Krakau, obwohl ihr Bruder und ihre Tochter in die USA emigrierten. Erst spät gelang es ihr, über ihre Vergangenheit und die Schrecken, die sie im Konzentrationslager erlebt hat, zu sprechen. Nach dem Krieg war das lange nicht möglich, wie Niusia Horowitz-Karakulska auf Nachfrage der Jugendlichen erklärt: „Man wollte leben, man wollte frei sein, man wollte die Wunden nicht wieder öffnen.“ Vor allem die Zusammenarbeit mit Steven Spielberg, den sie bei den Filmarbeiten beriet, half ihr bei der Aufarbeitung des ihr angetanen Unrechts.

Niusias Mut und Stärke bewegen Anne zutiefst: „Ich finde es erstaunlich, was für eine starke Persönlichkeit sie hat. Um diese Schrecken zu überleben, braucht es, denke ich, einen großen Durchhaltewillen und Lebensfreude. Ich finde es spannend, wie offen sie darüber gesprochen hat. Sie erzählt die Geschichte einer Frau, die weitergemacht hat.“

Nach dem Bericht dürfen die jungen Menschen Fragen stellen. Es geht ihnen um die Zeit nach 1945, den Zusammenhalt unter den Gefangenen in Ausschwitz und Niusias Einschätzung zur Schuld der Nationalsozialisten. Die fast 90-Jährige antworte geduldig. Gespräche wie dieses führt sie seit über zwanzig Jahren, seitdem sie an Spielbergs Film mitgewirkt hat. Besonders interessiert sind die jungen Menschen jedoch an einem Ratschlag an sie und ihre Zukunft. Niusia Horowitz-Karakulska antwortet schlicht: „Ihr seid die Zukunft des Volkes. Ihr müsst klüger regieren, als es bei uns der Fall war.“

»Ihr seid die Zukunft des Volkes. Ihr müsst klüger regieren, als es bei uns der Fall war.«

Niusia Horowitz-Karakulska
Zeitzeugin und letzte Überlebende von Oskar Schindlers Listen

Anne fällt es leicht, aus diesen Worten eine Botschaft für ihr eigenes Leben abzuleiten: „Für mich bedeutet das, dass jeder von uns ganz viel Verantwortung trägt und wir die Zukunft der Erde sind. Dementsprechend müssen wir unsere Taten und unser Denken kritisch hinterfragen. Es geht um das, was in Politik und Gesellschaft passiert, aber auch um unser persönliches Umfeld. Da müssen wir wachsam sein und darauf achten, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.“

Für Sara hatte das Gespräch aber auch in anderer Hinsicht eine besondere Bedeutung. Sie verweist dabei auf Niusias Bild, das im Schindler-Museum hängt. Im Rahmen einer Führung konnte die Gruppe das Museum besuchen und dort eben auch das Foto sehen. Sara sagt dazu nachdenklich: „Man sieht viele Bilder in Museen – viele Gesichter und viele Menschen. Aber es sind eben meistens nur Bilder für mich. Dass wir zu Niusias Bild jetzt eine wahre Persönlichkeit kennengelernt haben, die auch ihre Geschichte erzählt hat, bedeutet mir viel.“

Eine der letzten Fragen an Niusia lautet: „Welchen Rat würden Sie ihrem jüngerem Ich geben?“ Zuerst antwortet die Zeitzeugin „keinen“. Sie lächelt dabei, wie so oft im Gespräch. Dann kippt die Stimmung. Ganz ernst sagt sie: „Wenn ich gewusst hätte, was passiert, dann hätte ich den Gashahn in der Küche aufgedreht und ich hätte mich umgebracht.“ Diese Worte lassen die Jugendlichen schwer schlucken. Mit dieser Antwort hatten sie nicht gerechnet, obwohl Niusia die Grausamkeiten im Konzentrationslager so eindrücklich beschrieben hatte. Diese Ehrlichkeit treibt Einigen Tränen in die Augen. Doch die 89-Jährige winkt ab, sie will die nächste Frage hören.

»And how many worlds did Oskar Schindler save? If it weren't for him, there would not be me, and there would not be my family either, nor our descendants - my daughter an my two grandchildren, my brother Rysios' two sons, my cousin Olek's children, [...] the children and grandchildren of others saved by Schindler. [...] So how many save he really then, when he saved 1,200 people? They are countless.«

Niusia Horowitz-Karakulska
Zeitzeugin und letzte Überlebende von Oskar Schindlers Listen

Das Gespräch mit Niusia Horowitz-Karakulska neigt sich dem Ende zu, die letzte Frage wird gestellt und beantwortet. Zum Abschied haben die Roverinnen und Rover etwas vorbereitet: ein Dankeschön für dieses bewegende Gespräch. Mike, Diana und Elena überreichen Niusia einen rover-roten Blumenstrauß und das Halstuch des Rings deutscher Pfadfinder, dem alle größeren Pfadfinderverbände, auch die DPSG, angehören. Niusia legt es sich um den Hals und strahlt, richtig stolz schaut sie aus. Dann fragt sie nach einem Gruppenfoto.

Dass dieses Foto nicht das einzige ist, was die Pfadfinderinnen und Pfadfinder von diesem Gespräch mitnehmen, steht nicht nur für Anne und Sara außer Frage.

Mix