Nein, das will ich nicht!
04.05.2018
Body + Soul

Ein Parcours, der provoziert

Der ECHT KRASS-Mitmachparcours ist direkt, ehrlich, nah. Er rüttelt auf, nimmt kein Blatt vor den Mund, provoziert uns zum konkreten Reden. Endlich!, meint YOUPAX-Autorin Carolin. Ein Interview über sexuelle Grenzverletzungen und Sexismus - und über gute Präventionsarbeit.

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Von Carolin Schnückel

Egal, in welchem Bereich du mit Kindern und Jugendlichen arbeitest: Eine Schulung zur Prävention von sexualisierter Gewalt hast du bestimmt schon mal mitgemacht. Wenn du dein theoretisches Wissen durch ganz konkrete Beispiele ergänzen möchtest, hast du zurzeit im Erzbistum Paderborn die Möglichkeit dazu: Der ECHT KRASS-Mitmachparcours des PETZE-Instituts war bis vor kurzem in Bielefeld, ist aktuell bis zum 17. Mai in Paderborn zu Gast und danach in Herford zu sehen. An fünf interaktiven Stationen können sich Jugendliche ab der 8. Klasse sowie Haupt- und Ehrenamtliche in der Jugendarbeit mit dem Thema „sexuelle Grenzverletzungen“ auseinandersetzen.

Schon tausendmal gehört, jeden Artikel zu #metoo gelesen, genug von dem Thema? ECHT KRASS ist anders. Die Ausstellung ist direkt, ehrlich, nah. Sie rüttelt auf, nimmt kein Blatt vor den Mund, provoziert uns zum konkreten Reden. Endlich!, meint YOUPAX-Autorin Carolin. Sie hat mit der Geschäftsführerin des PETZE Instituts Ursula Schele gesprochen und bei den Dekanatsreferentinnen Rabea Krato (Bielefeld-Lippe) und Theresa Bartz (Paderborn) nachgefragt, wie die Ausstellung im Erzbistum ankommt. Wie heftig es sein kann, der sachlich vorgetragenen Anklage eines Staatsanwalts zu lauschen, was der Unterschied zwischen Testern und Tätern ist und welche einfache Antwort man auf die Frage „Wo hört der Spaß auf?“ geben kann – all das liest du hier.

Ursula Schele ist Geschäftsführerin des PETZE Instituts

»Besonders mutig finde ich auch Einzelne oder Gruppen, die für sich reflektieren, dass sie selber übergriffig geworden sind und ihr eigenes Verhalten in Frage stellen.«

URSULA SCHELE
Geschäftsführerin PETZE Institut für Gewaltprävention gGmbH

Frau Schele, warum ist es so wichtig, dass junge Menschen sich mit den Themen Sexismus und sexualisierte Gewalt auseinandersetzen?

Ursula Schele: Jugendliche Mädchen und Jungen sind in einer wichtigen Phase, in der sie für sich herausbilden, wie sie als Frau oder Mann sein wollen, wie ihr Rollenverständnis ist und wie sie mit ihren sexuellen Wünschen umgehen wollen. Hinzu kommt leider, dass viele Jungen und noch weitaus mehr Mädchen selber schon leidvolle Erfahrungen mit Sexismus, Übergriffen und Gewalt machen mussten. Als Betroffene ist es gut zu erfahren, dass sie in ihrer Situation nicht allein sind, dass sie nie Schuld haben und dass sie ein Recht auf Hilfe und Heilung haben.

Nehmen die Jugendlichen aus dem Parcours einen spürbaren Lerneffekt mit in ihren Alltag? Was melden Ihnen Teenager, Gruppenleitungen und Lehrkräfte zurück?

Ursula Schele: Die Jugendlichen berichten übereinstimmend, dass es sehr gut war, sich mit dem Thema zu beschäftigen, dass sie viele neue Erkenntnisse hatten und vor allem, dass ECHT KRASS viele Gespräche und Diskussionen angestoßen hat. Besonders berührt sind wir immer von den Mädchen und Jungen, die sich nach dem Besuch des Parcours Hilfe für sich selber oder für Gleichaltrige holen. Besonders mutig finde ich auch Einzelne oder Gruppen, die für sich reflektieren, dass sie selber übergriffig geworden sind und ihr eigenes Verhalten in Frage stellen.

ECHT KRASS bietet einige Audiostationen
An der Station LAW AND ORDER lernst du etwas über das Strafrecht bei Sexualdelikten
Wenn das Netz zum Tatort wird: An der Station SEX SELLS geht es um unsere Mediennutzung
An der Station LOVE & HATE geht es um Gruppendruck und emotionale Abhängigkeiten.

In der Jugendarbeit geht es um Spaß, Abenteuer und Gemeinschaft. Bei Zeltlagern und Ferienfreizeiten entsteht oft eine ganz eigene Gruppendynamik. Was mache ich als Teilnehmerin oder Teilnehmer, wenn ich mich in einer konkreten Situation nicht wohl fühle? Man will ja auch kein Außenseiter sein…

Ursula Schele: Das lässt sich so pauschal nicht beantworten, denn es hängt ja davon ab, wer die Personen sind, die beteiligt sind, wie die Machtverhältnisse sind und wie ich mich gerade selber fühle. Generell ist es super, wenn vor Fahrten und Freizeiten das Thema Umgang mit Nähe, Distanz und Sexualität offen angesprochen und die Regeln gemeinsam erarbeitet oder zumindest transparent gemacht werden. Wenn Mädchen und Jungen merken, dass mit dem Thema souverän und sachlich umgegangen wird, fällt es ihnen deutlich leichter, unangemessene Situationen oder Grenzverletzungen anzusprechen. Zum Parcours gehört eine Broschüre mit dem Titel „Wo hört der Spaß auf?“ und die Antwort ist eigentlich ganz einfach: Gewalt ist alles, was ich mit anderen mache, was die nicht wollen.

Was mache ich als Gruppenleiterin oder Gruppenleiter, wenn ich merke, dass sich ein Kind durch eine andere Person unwohl fühlt?

Ursula Schele: Wenn ich merke, dass sich ein mir anvertrauter Mensch im Kontakt mit anderen unsicher oder unwohl fühlt, würde ich einerseits fragen, ob meine Wahrnehmung zutrifft. Falls das so ist, würde ich dann den Erwachsenen ansprechen und bitten, Abstand zu halten oder das Verhalten zu ändern. Verhaltensänderungen sind aber ein sehr hoher Anspruch. Daher ist gut, wenn z.B. mit einem „Ampelmodell“ angemessenes, grenzwertiges und verbotenes Verhalten besprochen und festgelegt wurde. Da hilft im Übrigen der Gesetzgeber und eine Selbstverpflichtungserklärung.

Nach der #metoo-Debatte hat man schon öfter gehört, dass „man gar nicht mehr weiß, wie Männer und Frauen miteinander umgehen sollten, ohne gleich sexistisch zu sein“. Wie reagieren Sie auf diesen Ausspruch?

Ursula Schele: Wir von der PETZE haben gerade mit einer neuen Mini-Kampagne auf diese Frage geantwortet. Zitat der Postkarte: Sex ist wenn es beide wollen – alles andere ist Gewalt. In der zwischenmenschlichen Situation geht es also nicht darum, sich ein NEIN abzuholen, sondern einfach das Gegenüber anzuschauen und zu sehen ob sie oder er ein JA signalisiert. Das kann jeder Mann und jede Frau. Bei Jugendlichen hat sich die Unterscheidung in Tester und Täter sehr bewährt. Tester/innen gehen an Grenzen, um in Kontakt zu kommen und machen Halt, wenn sie eine Grenze wahrnehmen bzw. entschuldigen sich, wenn sie sie überschritten haben. Täter machen weiter und beschuldigen das Opfer, nicht laut genug NEIN gesagt zu haben.

Das PETZE Institut

Der Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch ist zentrales Anliegen der PETZE. Das Institut für Gewaltprävention sitzt in Kiel und schult Erwachsene, die mit Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Schutzbefohlenen arbeiten. Für die Präventionsarbeit entwickelt das Team praxisnahe Materialien und Projekte. PETZE ist bekannt für die ECHT…-Ausstellungen, die es für unterschiedliche Zielgruppen gibt – von der Kita bis zur weiterführenden Schule.

ECHT KRASS auf Tour durchs Erzbistum

Rabea, wie wurde die Ausstellung im Dekanat Bielefeld-Lippe angenommen – kannst du schon etwas zu den Besucherzahlen sagen? Und wie reagieren die Jugendlichen auf die lebensnahen Inhalte?

Rabea Krato: Bei uns haben ca. 60 Personen die Ausstellung besucht. Das ist für so ein Thema keine große Besucherzahl, aber jeder Einzelne zählt. Wichtig für mich ist, dass die Besucher mitbekommen haben, dass sich Kirche mit diesem Thema auseinandersetzt und klar Stellung bezieht! Außerdem haben für mich die Gespräche im Nachgang an Bedeutung gewonnen, denn die haben mir gezeigt, dass das Thema in den Menschen etwas bewegt. Und genau das ist gewollt.

Insgesamt kann ich sagen, dass die Ausstellungsbesucher sehr positiv reagiert haben und durchweg zufrieden waren. Einige waren überrascht, wie „krass“ deutlich die Ausstellung die wichtigen Themen hinsichtlich sexueller Selbstbestimmung und sexueller Gewalt benennt. Sie bringt die Dinge gut auf den Punkt.

Rabea Krato hat die Ausstellung als Dekanatsreferentin für Jugend und Familie in Bielefeld begleitet.

»Ein Staatsanwalt trägt die Anklageschrift sachlich vor. Der Inhalt: brisant und leider immer öfter in den Medien zu hören. Die Auswirkungen für die Betroffene: fatal.«

RABEA KRATO
Dekanatsreferentin für Jugend und Familie in Bielefeld-Lippe

Bestimmt hast du den Parcours auch selbst getestet. Was hat bei dir den größten Eindruck hinterlassen?

Rabea Krato: Als ich das erste Mal die Ausstellung vor einigen Monaten gesehen habe, hat mich vor allem die Aufmachung fasziniert. Der Parcours bringt die die Inhalte gut auf den Punkt, ist sehr klar und spricht die Sprache der jungen Menschen. Der Erfahrungsraum in der gelben Säule LAW & ORDER hat mich nachhaltig beeindruckt. Ein Staatsanwalt trägt die Anklageschrift sachlich vor. Der Inhalt: brisant und leider immer öfter in den Medien zu hören. Die Auswirkungen für die Betroffene: fatal.

Wem legst du ECHT KRASS besonders ans Herz? Oder hast du irgendwelche Tipps für die Leute in Paderborn und Herford, die den Parcours in den nächsten Wochen besuchen können?

Rabea Krato: Ich empfehle die Ausstellung allen, die haupt- und ehrenamtlich mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben – und das bezieht sich nicht nur auf die katholische Jugendarbeit. Mir persönlich liegt am Herzen, dass diejenigen in den Pastoralen Räumen die katholische Jugendarbeit zu verantworten haben, Vorstände von Jugendverbänden oder Kirchenvorstände, für die Thematik sensibel und ansprechbar sind. Letztlich sind sie es, die die Verantwortung für ehrenamtliche Mitarbeiter tragen.
Wer mit einer Gruppe junger Leute den Parcours besucht, sollte sich vorab informieren, wie die Ausstellung aufgebaut ist und welche Themeninhalte vorkommen. Man sollte sich darüber bewusst sein, dass Themen wie Vergewaltigung unbedingt sensibel behandelt werden müssen. Auch fühlen sich muslimische Jugendliche mit manchen Darstellungen nicht wohl. Das gilt es zu respektieren.

Theresa Bartz ist als Dekanatsreferentin für Jugend und Familie in Paderborn die Ansprechpartnerin für die ECHT KRASS-Ausstellung.

»Für Prävention gilt immer:

Hinsehen statt Wegschauen.«

THERESA BARTZ
Dekanatsreferentin für Jugend und Familie in Paderborn

Theresa, warum ist es wichtig, die Themen Sexismus und sexualisierte Gewalt in der Jugendarbeit ständig auf dem Schirm zu haben – sowohl als Teenager als auch als Gruppenleitung?

Die (Kriminal-)Statistik beweist leider, dass sexualisierte Gewalt ein absolut alltägliches Thema ist. Der größte Anteil der Opfer sind Kinder und Jugendliche: Circa jedes 5. Mädchen und jeder 12. Junge werden im Schnitt Opfer. Es gibt ca. 12.500 angezeigte Fälle im Jahr, die Dunkelziffer ist vermutlich weit höher. Täter sind häufig selbst noch Jugendliche. In der Jugendarbeit müssen wir also davon ausgehen, dass wir es auch mit Betroffenen zu tun haben. Deshalb müssen sich Gruppenleiter und besonders Träger und Verantwortliche mit der Thematik auseinandersetzen.

Wenn man sich in einer konkreten Situation unwohl oder bedrängt fühlt, ist man vielleicht erstmal perplex – und schnell ist der Moment vorbei, in dem man den Mund aufmachen sollte. Was dann?

Wichtig ist, sich einer Person anzuvertrauen. Das kann auch im Nachhinein geschehen. Gerade in der Situation, selbst Opfer geworden zu sein, ist die Hürde sich jemandem anzuvertrauen extrem hoch. Im Schnitt müssen Betroffene sich sieben Mal einer Person anvertrauen, bis ihnen geholfen wird. Wenn wir es schaffen, diese Zahl zu reduzieren, ist das schon ein erster wichtiger Erfolg.

Gerade katholische Jugendarbeit legt Wert darauf, Kinder und Jugendliche stark zu machen, sich für ihre Interessen einzusetzen und ihren Mund aufzumachen. Deswegen legen wir so viel Wert darauf, immer wieder zu ermutigen und z.B. in den Präventionsschulungen genau solche Situationen „theoretisch“ einzuüben. Man kann das vielleicht mit einem Erste-Hilfe-Kurs vergleichen: Man weiß nie, ob man sich im Falle eines Unfalls richtig verhalten würde und hofft, dass man nie in die Situation kommt, aber man fühlt sich vorbereitet und ermutigt, es im Ernstfall zu versuchen. Für Prävention gilt immer: Hinsehen statt Wegschauen.

#metoo: Der Hashtag löste eine Sexismus-Debatte aus

Welche Anlaufstellen gibt es im Erzbistum Paderborn, wenn man selbst von sexualisierten Übergriffen oder sexualisierter Gewalt betroffen ist?

Anlaufstellen für Opfer sind sowohl die Beratungsstellen der Caritas oder die Ehe-, Familien-, Lebensberatung. Anonyme Beratung ist auch telefonisch z.B. über die Nummer gegen Kummer möglich. Beauftragter für Fälle sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen und erwachsenen Schutzbefohlenen durch Kleriker, Ordensangehörige und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im kirchlichen Dienst ist im Erzbistum Paderborn Dr. Franz Kalde. Er ist Kontaktperson für Personen, die solche Fälle anzeigen möchten. Für den großen Bereich der Prävention steht die Koordinierungsstelle Prävention im Erzbistum oder das Fachreferat des BDKJ Diözesanverbandes.

ECHT KRASS – Die Ausstellung

Der interaktive Präventionsparcours will eine Stärkung der sozialen Kompetenz und eine Sensibilisierung der Jugendlichen erreichen und vermittelt Handlungsalternativen und Auswege aus der sexualisierten Gewalt. ECHT KRASS bietet Infos, Denkanstöße und Diskussionsstoff zu diesen fünf Themenbereichen:

Sex sells: sexistische Werbung und Pornografie
Trial & Error: eigene Bedürfnisse und die des Partners/der Partnerin
Stop & Go: Kommunikation in Teenagerbeziehungen
Love & Hate: Gruppendruck und emotionale Abhängigkeiten
Law & Order: Gesetzeslage und Hilfe bei sexuellen Grenzverletzungen

Weitere Infos zu den Ausstellungszeiträumen findest du im YOUPAX-Eventkalender: Hier für Paderborn, hier für Herford.

Ergänzendes Material zur Ausstellung gibt’s auf der Homepage des PETZE-Instituts.

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