Nächtelang vor dem PC - das war Linas alltag mit ihrer Mediensucht.
Nächtelang vor dem PC - das war Linas alltag mit ihrer Mediensucht.
08.09.2018
Body + Soul

Eine Leere, die nur die Liebe füllt

Linas Leben mit einer Sucht

test
von Tobias Schulte

Wenn Lina die Geschichte ihrer Sucht erzählt, beginnt sie in der neunten Klasse. Sie spricht über gute Noten, die immer schlechter werden. Über einen Umzug, mit dem sie nicht klarkommt. Über Mobbing und Depression. Am Ende der Geschichte überkommen Lina Fressattacken, die sie alles in sich stopfen lassen, was sie im Haus findet. Am Ende sitzt sie mit Mediensucht nächtelang vorm Fernseher und PC. Am Ende habe sie sich nicht richtig tot, aber auch nicht richtig lebendig gefühlt – und einen Rettungsring zugeworfen bekommen.

Linas Weg in die Sucht

Lina hat noch nie zu den beliebten Mädchen in ihrer Klasse gehört. Sie macht nicht mit, wenn ihre Mitschüler jemanden schlechtreden. Sie kleidet sich lieber gemütlich statt modisch. Als Lina 15 ist, zieht ihre Familie um. In der neuen Schule beleidigen sie ihre Mitschüler. Bei einer Gruppenarbeit arbeitet niemand freiwillig mit Lina zusammen. Ihr Körper reagiert darauf. Morgens plagen sie Magenkrämpfe, der Kopf dröhnt. Sie geht nicht in die Schule.

Lina beginnt, an sich zu zweifeln. Essattacken überkommen sie. Innerhalb der Familie zieht sie sich zurück, spielt gern am Computer oder verschlingt Bücher bis in die Puppen. Ein Arzt diagnostiziert: Depression. Computer und Handy lassen Lina, „in eine andere Welt fliehen“, wie sie sagt. Sie wird mediensüchtig. Lina fühlt sich innerlich leer, rückblickend beschreibt sie ihre Sucht als ein großes Loch. „Da kannst du reinstopfen, was du willst, das Loch wird immer größer.“

Ein Mann steckt sich eine Zigarette an.

Ab wann ist man süchtig?
Suchtarzt Dr. Stefan Kühnhold von der LWL Klinik Warstein-Lippstadt erklärt, dass es sechs Kriterien für eine Sucht gibt. Wenn mindestens drei davon erfüllt sind, spricht man von einer Abhängigkeit. Die Kriterien sind:
1) Der Mensch spürt ein starkes verlangen nach seinem Suchtmittel.
2) Beim Konsum verliert er die Kontrolle über die Menge.
3) Süchtige vertragen von ihrer Substanz viel mehr als üblich.
4) Menschen mit einer Abhängigkeit zeigen Entzugssymptome auf, wenn sie nicht konsumeiren.
5) Psychosozial spielt eine Rolle, wie sehr sich der Alltag um das Suchtmittel dreht. Abhängige denken ständig an den Konsum, wie sie sich das Nächste beschaffen können und daran, ob jemand ihnen etwas anmerkt.
6) Abhängige konsumieren, obwohl sie wissen, dass es ihnen nicht guttut. Chefarzt Kühnhold kennt Cannabisabhängige, die wussten, dass sie nach dem Rauchen depressiv werden -  und es trotzdem weiter taten, aufgrund ihrer Sucht. Und Alkoholiker, die schnell kotzen müssen, wenn sie trinken. Er begründet: „Es kommt nicht drauf an, ob das Gefühl, die mir die Substanz gibt, geil ist. Sondern darauf, dass der Körper lernt: Es ist wichtig, das zu machen.“

Lina heißt in Wahrheit anders, doch ihr Fall ist echt. Wie sie leben in Deutschland über fünf Millionen Menschen mit einer Sucht. Das Bundesgesundheitsministerium bezieht sich auf Studien, nach denen 1,8 Millionen Menschen von Alkohol und 2,3 Millionen Menschen von Medikamenten abhängig sind. Rund 600.000 Menschen konsumieren Cannabis und andere illegale Drogen in problematischem Ausmaß. 500.000 Menschen hängen viel zu oft vor Glücksspielen. Etwa 560.000 Menschen sind in Deutschland mediensüchtig.

Lina, heute 21 Jahre alt, fällt während der Schulzeit in ihre Sucht – und ist damit ein typischer Fall. „Die meisten Abhängigkeitserkrankungen entstehen in der Pubertät“, erklärt Dr. Stefan Kühnhold, Chefarzt der Suchtstation der LWL-Klinik Warstein-Lippstadt. Wir treffen ihn in seinem Büro auf der Suchtstation in Lippstadt-Benninghausen. Kühnhold, 53 Jahre alt, wirkt sportlich. Er trägt ein kariertes Hemd und eine schwarze Brille. Tageslicht aus einem großen Bürofenster spiegelt sich auf seiner Glatze.

Er erklärt, wie sich eine Sucht einschleicht: „Die Substanzen wirken im Gehirn auf die Belohnungsbahnen aus. Die sind dafür zuständig, dass wir etwas lernen. Nach dem Konsum sagt einem das Gehirn: Das muss ich wiederholen.“ In der Pubertät ist das Gehirn für Lernerfahrungen besonders empfindlich. Wer mehrfach freiwillig eine Substanz konsumiert, bei dem speichert das Gehirn die Sucht ein. Theoretisch kann der Mensch von allem süchtig werden. Doch gerade Drogen sorgen dafür, dass das Belohnungssystem für andere positive Reize nicht mehr so aufmerksam ist.

Mediziner haben sechs Kriterien, anhand derer sie eine Abhängigkeit bestimmen. Ein Punkt ist, wie sehr sie den Alltag bestimmt. Linas verschiedene Krankheiten und Süchte haben aus ihrem Alltag ein Versteckspiel gemacht. Ihre Ängste lassen sie die Schule schwänzen. Damit ihre Eltern nichts merken, fährt sie morgens trotzdem in die Stadt und versteckt sich in Geschäften. Lina fährt wieder nach Hause, wenn sie sich sicher ist, dass niemand mehr da ist. Sie legt sich schlafen, danach hockt sie stundenlang vor dem PC. Wenn Lina eine Essattacke bekommt, stopft sie unkontrolliert Essen in sich rein. „Bis es mir hier stand“, sagt sie und zeigt mit der ausgestreckten Hand auf den Kehlkopf. Dass Lina etwas ändern muss, hat sie öfter erkannt. Doch sie fühlte sich zu schwach dafür. Sie erklärt: "Wenn man depressiv ist, hat man nicht mal die Energie, duschen zu gehen."

Dr. Stefan Kühnhold steht auf dem Flur der Suchtstation der LWL-Klinik Warstein-Lippstadt.
Dr. Stefan Kühnhold steht auf dem Flur der Suchtstation der LWL-Klinik Warstein-Lippstadt.

Als Linas Eltern hinter ihr System kommen, schmeißen sie sie raus. Zu diesem Zeitpunkt hat Lina bereits zwei Therapien in Suchtkliniken hinter sich. Nach den Therapien habe sie jeweils gedacht, ihr gehe es wieder normal. Doch im Schulaltag ist sie zurückgefallen in ihre Sucht.

Wie kann Lina noch geholfen werden? Eine Ordensschwester aus der Familie schlägt ihr zum Neustart die Fazenda de Esperanca (deutsch: Höfe der Hoffnung), eine christliche familiäre Gemeinschaft und anerkannte Therapieeinrichtung vor. „Ne ne ne, das funktioniert nicht“, war ihre erste Reaktion. Heute bezeichnet Lina das Angebot als Rettungsring, der ihr zugeworfen wurde. „Ich habe damals nicht richtig gelebt, war aber auch nicht richtig tot.“

Lina schreibt einen Brief an die Fazenda in Hellefeld. Mit dem Wunsch, einen anderen Weg zu gehen. „Die einzige Bedingung, die wir stellen, ist der eigene Wille“, erklärt die Leiterin des Hauses Michaela Fikus (44). Der Weg zum Neuanfang führt Lina über enge Straßen, die sich an den Bergen des Sauerlands vorbeischlängeln. Durch Hellefeld führt eine lange Straße, entlang der man bis zum Horizont gucken kann. Es gibt keinen Bürgersteig, ein Bus fährt nur morgens und mittags für die Schulkinder. Linas neue Heimat ist ein ehemaliges Schwesternhaus. Das weiße Fachwerkgebäude der Fazenda liegt neben den Gewächshäusern einer Gärtnerei und den Hallen eines Sägewerks. Als wir sie besuchen, wohnt sie seit 13 Monaten in der Gemeinschaft.

Eingag der Einrichtung
Michaela Fikus im Gespräch mit YOUPAX.
Michaela Fikus im Gespräch mit YOUPAX.
Lina hält ein fertiges Nackenhörnchen in der Hand.

Gemeinschaft als Gegenpunkt zur Sucht

Michaela Fikus, begrüßt uns mit bayrischem Dialekt. Während die 44-Jährige spricht, zieht sie fast durchgängig die Mundwinkel nach oben. Lachfalten zeichnen ihre Augen, sie gestikuliert mit geöffneten Händen. Michale Fikus strahlt Ruhe und Lebensfreude aus. Aus ihr spricht die Lebenserfahrung einer Frau, die sich nach Jobs beim Oberlandesgericht in München und später als Visagistin gefragt hat: „Für was lebe ich, was bleibt von meiner Arbeit?“ Sie ging nach Brasilien und lebte dort mehrere Jahre in einer Fazenda. Vor sechs Jahren hat sie den Standort in Hellefeld aufgebaut.

Das Leben in der Fazenda setzt einen klaren Gegenpunkt zu Linas Sucht-Alltag. Hier lebt sie mit einer weiteren Frau mit Suchtgeschichte, Leiterin Michaela Fikus, vier Freiwilligen und drei Ordensschwestern 24 Stunden unter einem Dach. Im ersten Geschoss ist das Rattern einer Nähmaschine zu hören. Eine drahtige Frau, graue Haare unter denen weiße Strähnen hervorblitzen, näht zwei u-förmige Stoffteile zusammen. Im Raum nebenan sitzt eine Ordensschwester, weiße Haare, grauer Habit. Sie stopft Styroporkugeln in die Stoffhörnchen, die nebenan genäht werden. Lina legt ein goldenes Band um ein fertiges Exemplar, bindet eine Schleife und befestigt damit einen Zettel. „Frohe Weihnachten“ steht darauf. Die Gemeinschaft produziert 1700 Nackenhörnchen, die die Caritas an ihre Patienten verschenken wird.

893 Exemplare haben sie schon fertig, berichtet Lina stolz. Die Arbeit gibt ihr ein Gefühl, das sie während der Sucht nicht hatte: Ich kann was! „Hier habe ich das erste Mal gespürt: Ich bin okay so, wie ich bin. Man mag mich.“ Lina, die sich früher eingeigelt hat, schläft in der Fazenda im Vierbettzimmer. Sie lebt in der Gemeinschaft, die von Spenden und dem Erlös ihres Hofladens mit Marmelade, Olivenöl und Kleidung lebt. Beim Mittagessen gibt es das, was im eigenen Garten wächst, was sie geschenkt bekommen oder günstig kaufen können. Heute hat eine der Freiwilligen gekocht, es gibt Bockwürstchen mit Käsespätzle, Krautsalat und gemischtem Salat.

»Wenn das Gerhirn ein mal eine Abhängigkeit gelernt hat, wird es sie nicht mehr los. Der Körper wird sich ein Leben lang daran erinnern.«

Stefan Kühnhold
Chefarzt der Suchtstation in Lipsstadt-Benninghausen

Dr. Stefan Kühnhold spricht mit YOUPAX in seinem Büro.
Dr. Stefan Kühnhold spricht mit YOUPAX in seinem Büro.

Lina spricht mit uns über ihre Zukunft. Sie wäre nicht klug, wenn sie nicht daran denken würde, sagt sie. „Was Soziales“, schwebt ihr vor. Vielleicht Krankenpflegerin oder Erzieherin. Gemeinsam mit Michaela Fikus hat sie entschieden, dass sie noch ein halbes Jahr in der Gemeinschaft bleibt. Sie denkt daran, dass es ihr nach den beiden Therapien auch besser ging. „Diesmal möchte ich bereit sein, nicht wieder fallen.“

Chefarzt Stefan Kühnhold weiß, wie schwer der Neubeginn ist. Wenn das Gehirn ein mal eine Abhängigkeit gelernt hat, wird es sie nicht mehr los. Ungefähr ein Drittel der in Deutschland behandelten Alkoholiker würden den Neustart schaffen. Bei illegalen Drogen seien die Zahlen deutlich schlechter. Kühnhold erzählt von Alkoholikern, die 15 Jahre lang trocken waren und nach einem Glas Bier zurückfallen und eine Kiste am Tag trinken. Er sagt, dass er oft mit Patienten übers Aufhören spricht, diese aber nur lernen wollen, wie sie ihren Konsum kontrollieren können.

Nicht wieder zurückfallen

Rückfälle oder abgebrochene Therapien sind in den Gemeinschaften der Fazenda seltener. Michaela Fikus schätzt, dass die Hälfte der Frauen, die mindestens für ein Jahr in der Gemeinschaft lebt, hinterher einen guten Weg geht. In der Fazenda wird den Frauen nicht nur die Sucht weggenommen. Sie erfahren als Ersatz etwas viel Größeres. Morgens, nach dem Frühstück um sieben Uhr, beten die Frauen gemeinsam den Rosenkranz und hören das Tagesevangelium. Sie diskutieren, wie sie aus diesen Zeilen heraus leben können, formulieren ein Motto für den Tag. Heute: „Öffne die Tür deiner Rumpelkammer!“

Während sich in Linas Leben in ihrer Sucht alles um sie selbst gedreht hat, öffnet ihr das Evangelium die Augen für andere Menschen. Sie lebt Nächstenliebe und bekommt ein Gefühl zurück, das sie erfüllt. Wenn Lina heute über die einstige Leere in sich spricht, führt sie den Satz fort: „Du kannst reinstopfen, was du willst, das Loch wird immer größer. Außer, wenn du die Liebe findest. Gottes Liebe füllt das Loch.“

Fazenda de Esperanca
Weltweit gibt es 139 Gemeinschaften der Fazenda de Esperanca. Das erste Haus wurde vor 35 Jahren in Brasilien von dem deutschen Franziskaner Frei Hans Stapel aufgebaut. Die geistliche Gemeinschaft "Familie der Hoffnung" steht hinter den Wohngemeinschaften. Die Säulen des Zusammenlebens sind Gemeinschaft, Spiritualität und Gemeinschaft. In Deutschland gibt es fünf Fazendas für Männer und zwei für Frauen.

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