Michael Burgard (18) lebt und arbeitet auf Jahrmärkten
Es ist ein goldener Novembertag in Soest. Schon mittags steht die Sonne flach, scheint gerade so über das Dach der Petrikirche. Für eine Winterjacke ist es noch zu warm. Inmitten der Fachwerkhäuser und Kirchen aus grünem Sandstein stehen Karussells, Essenswagen und Bierbuden. In zwei Tagen beginnt die 681. Allerheiligenkirmes in Soest.
Unterhalb des Riesenrads Roue Parisienne steht Michael Burghard und schaut auf sein Handy. Der 18-Jährige trägt einen schwarz-gelben Pulli mit BVB-Logo, schwarze Hose und Arbeitsschuhe. Er hat gerade Mittagspause vom Aufbauen und trifft sich mit uns zum Gespräch.
Als wir Kaffee und Wasser bestellen erzählt Michael, dass das Riesenrad bis zum Start nur noch gereinigt werden müsse. Vor fünf Tagen sind sechs Lkw der Schaustellerfamilie mit den Teilen des Riesenrads auf den Petrikirchplatz gefahren. Michael ist für den Aufbau zuständig, bei dem sieben Mann mit anpacken. Er sitzt auf dem Kran und weiß, welches Bauteil als Nächstes kommt. „Seit 15 Jahren bin ich immer dabei. Ich kenne mich schon gut aus“, sagt er. Wie der Aufbau funktioniert, erklärt das untenstehende Video ab Minute 2.
Der 18-Jährige wurde in eine Schaustellerfamilie geboren. Er ist in Dortmund aufgewachsen und in Hamm aufs Internat gegangen. Jetzt arbeitet Michael Burghard mit seinen Eltern zusammen und sieht sie dauerhaft. Während der Schulzeit war er höchstens in den Ferien und am Wochenende bei ihnen.
Mit der Entscheidung fürs Internat haben seine Eltern bewusst auf Nähe zu Michael Burghard verzichtet. Andere Schausteller nehmen ihre Kinder zu allen Jahrmärkten mit. Die Kinder wechseln dafür wöchentlich die Schule und haben oftmals nicht so gute Noten, als wenn sie dauerhaft dieselbe Schule besuchen würden.
In Soest wird Michael einige seiner Schulfreunde aus Hamm wiedersehen. Sein bester Kumpel ist auch ein Schausteller. Er gehört zum Fahrgeschäft High Impress, das in Soest neben dem Roue Parisienne steht. Vor der Allerheiligenkirmes sind die beiden in den Moviepark gefahren und haben gegeneinander Playstation gezockt.
Die Allerheiligenkirmes in Soest ist für die Familie Burghard die letzte Kirmes im Jahr. Sie sind mit dem Riesenrad und einem Ausschank vor Ort. Zum Familienbetrieb gehört noch ein zweites, kleineres Riesenrad und ein drittes ist bereits gekauft. „Das neue wird 70 Meter hoch sein, das größte transportable Riesenrad der Welt“, sagt Michael Burghard. „Damit werden wir auch im Ausland sein. Das ist schon reizvoll, wenn man zu den Größten zählt.“
Obwohl es zu seinem Beruf gehört, kommt Sascha Ellinghaus in diesem Jahr nicht zur Soester Allerheiligenkirmes. Der 46-Jährige arbeitet für die katholische Kirche als Schaustellerseelsorger. Während der Kirmestage in Soest sei sein Terminkalender schon ausgebucht. "90 Prozent der Schausteller sehe ich wieder, wenn ich die Weihnachtsmärkte besuche", sagt Ellinghaus.
Im Normalfall gehe er auf Jahrmärkten eine Runde, wenn die Besuchermassen die Städte noch nicht ergriffen haben. Ellinghaus führt kurze Unterhaltungen, die manchmal auch zu längeren, seelsorglichen Gesprächen werden. Er weiß, dass Schausteller dieselben Sorgen wie andere Berufstätige plagen. Der Unterschied: "Das Privatleben und das berufliche Leben hängen sehr zusammen."
Auch Michael Burghard kennt Sascha Ellinghaus gut. Er ist bei ihm zur Erstkommunion gegangen. Auf einem Autoscooter. Michael bedeute es etwas, Christ zu sein. Er trägt immer eine Kette mit einem Kreuz. Er glaubt, dass es etwas gibt, das höher als wir Menschen ist. Ab und zu betet er und geht in die Sonntagsmesse.
Am Kirmes-Sonntag treffen wir Michael wieder. Er sitzt auf einem Bürostuhl im Kassenhäuschen vor dem Riesenrad. In der linken Hand hält er rote Fahrchips. In der Schublade vor seinem Bauch stapeln sich Geldscheine. Vor der Glasscheibe sind CD-Hüllen aufgetürmt.
Weil sich die Menschen in einer Reihe anstellen, die Schausteller aber zu zweit Tickets verkaufen, winkt Michael die Leute zu sich heran. Ein Familienvater erkennt das Zeichen. Er hält seine Tochter an der Hand und sagt: „Zwei Erwachsene und drei Kinder, bitte“. Michael Burghard kassiert und gibt die Fahrchips aus. Dann kommen die nächsten Fahrgäste. Große Gespräche führt Burghard selten – das würde den Verkauf aufhalten. „Ich freue mich immer, wenn viel zu tun ist. Das heißt: Es kommt viel bei rum.“
Wie müde ist er nach vier Tagen Kirmes? Michael antwortet: „Hält sich in Grenzen.“ Er ist um neun Uhr aufgestanden. Gestern hat er um zwei Uhr das Riesenrad zugemacht und hat danach geholfen, den Bierwagen des Familienbetriebs zu putzen. Bevor er um halb vier ins Bett gegangen ist, hat er noch etwas gegessen.
»Egal, wo ich gerade bin. Wenn ich das Gefühl von Ruhe und Frieden spüre, fühlt sich das nach Heimat an.«
Michael Burghard
Schausteller
Wenn heute Abend die Besucher spätestens mit dem offiziellen Ende um 23 Uhr zuhause sind, fangen die Schausteller mit dem Abbau an. Am nächsten Nachmittag wollen sie damit fertig sein. Sie werden das Riesenrad noch auf dem Weihnachtsmarkt in Hagen und an Silvester auf der Partymeile am Brandenburger Tor aufbauen. Nach Hagen kann die Familie jeden Tag von ihrem Haus in Dortmund fahren. Damit bedeutet die Abfahrt aus Soest ein Nach-Hause-Kommen nach 27 Volkfesten mit zwei Riesenrädern.
Mit dem Riesenrad kommt Michael Burghard rum in Deutschland, sieht die schönsten Innenstädte. Dafür schläft er aber auch die meisten Nächte des Jahres in seinem Wohnwagen. In Soest steht der hinter dem Bahnhof mit hundert anderen Wohnwagen zusammen. "Ich hab eine große Sitzecke, eine Herdplatte, einen Fernsehr, Toilette und zwei Betten", beschreibt Michael Burghard.
Komfortabler ist das Zuhause in Dortmund trotzdem. Und für ihn ist Dortmund genau auch das, Zuhause. Da kann er entspannen. „Aber meine Heimat ist unterwegs“, sagt der 18-Jährige. „Egal, wo ich gerade bin. Wenn ich das Gefühl von Ruhe und Frieden spüre, fühlt sich das nach Heimat an.“
Ruhe und Frieden sind während der Kirmestage in Soest eher Fremdwörter. Aus den Lautsprechern der Karusselle und Bierbuden kommt einem Musik entgegen. Die Menschen trinken und feiern, was das Zeug hält – Schlägereien und Schnapsleichen inklusive. Ist die Kirmes, die ihren Ursprung als Kirchweihfest der St. Petri Kirche hat, zur gottlosen Veranstaltung geworden? Kommt es nur auf den kurzzeitigen Kick, das leckere Essen und den Alkoholkonsum an? Michael Burghard antwortet darauf, dass die Kirmes die Menschen zusammenbringe. Tatsächlich ist für die Menschen, die aus der Region kommen, die Allerheiligenkirmes wie ein vorgezogenes Weihnachten – alle kommen dafür nach Hause. Man trifft alte und neue Freunde.
Außerdem kann man aus dem Rummel auch positive Botschaften ablesen. Die Fahrgeschäfte lassen einen darüber staunen, was wir Menschen entwerfen und bauen können. Anders gesagt: Was wir schöpfen. Wir sind zu Gottes Abbild geschaffen und haben den Auftrag, Mitschöpfer zu sein. Wer in einer Gondel des Riesenrads sitzt, blickt auf die Stadt herab und sieht die Menschen als kleine Punkte auf dem Boden. Wie alt der Einzelne ist, als was er arbeitet oder welche Hautfarbe er trägt, macht keinen Unterschied.