Es ist der 18. April 2023. In Duisburg. Yasin Güler wird in einem Fitnessstudio von einem Islamisten mit dem Messer niedergestochen. Er schwebt wochenlang in Lebensgefahr, muss vier Monate auf der Intensivstation bleiben.
Danach ist alles anders: drei Mal in der Woche Dialyse, künstlicher Darmausgang, Panikattacken, quälende Alpträume, starke Depressionen…
Doch Yasin glaubt: Das sollte so kommen. Irgendwie hat Gott das so gewollt. „Heute ist alles besser als vor dem Messerangriff“, sagt er.
Yasins Aussage kann man nur verstehen, wenn man seine Geschichte kennt. Beginnen wir in seiner Kindheit.
Yasin wächst in Oberhausen auf. Seine Mutter ist Deutsche, sein Vater Türke.
Der Vater verlässt Yasin und seine Mutter früh.
Die Konsequenzen sind heftig: Yasin hat das Gefühl, nie genug für seinen Vater zu sein. Schlimmer noch: Dass er ist der Grund , warum sein Vater sie verlassen hat. Aber die Sehnsucht nach der Anerkennung seines Vaters bleibt. Und so entwickelt er eine ganz eigene Strategie: Gegenüber seinem Vater und seinen türkischen Freunden tut er so, als sei es ihm wichtig, türke und Moslem zu sein. Dabei fühlt er sich eher als deutsch und als Christ - wie seine Mutter.
Mit 13 kommt ihm noch eine ganz andere Erkenntnis: Er ist homosexuell. „Jetzt musste ich nicht nur so tun, als ob ich Türke wäre, die türkische Sprache könnte, Ahnung von muslimischen Praktiken hätte“, sagt er.
Jetzt musste er auch noch so tun, als ob er auf Frauen stehen würde. Nicht nur gegenüber seiner Familie, sondern auch in der Schule: „Wenn die Leute in deinem Umfeld tagtäglich Witze über Homosexuelle machen, dann hast du nicht das Gefühl, dass du denen das sagen kannst“, erzählt Yasin.
Nach Außen spielt er ein Spiel. Doch innerlich zerreißt es ihn.
Das spürt Yasin. Deshalb versucht er, sich zu lösen.
Doch einfach ist das nicht. Alles wird schlimmer:
In der Familie entflammt eine Fehde. In der Schule wird Yasin zum Opfer.
Er wird gemobbt, beleidigt, geschlagen.
Jetzt spürt Yasin ein neues Gefühl: Vergeltung. Sie zeigt sich in Wut, Aggression, Zurückschlagen, Orientierungslosigkeit.
„Weglaufen hat nicht geholfen. Ignorieren hat nicht geholfen. Zum Lehrer gehen hat nicht geholfen. In psychologische Behandlung gehen hat nicht geholfen“, sagt Yasin zum Mobbing. „Dann hilft nur das zurückschlagen, habe ich irgendwann gedacht.“
Er erlebt: Gewalt führt zu noch mehr Gewalt. „Wenn man anfängt, sich mit Leuten zu schlagen, wollen sich auch andere mit dir messen“, sagt er.
Dauerhaft kann er mit der Gewalt nicht leben, also zieht er sich wieder zurück. Das Mobben geht wieder los. Seine Antwort? Wieder Gewalt. Ein Teufelskreis.
Doch nichts ist umsonst im Leben. Diese Erfahrung hilft Yasin, mit dem Hass umzugehen, den er nach dem Messerangriff am 18. April 2023 verspürt. Was ist passiert?
Yasin kommt von der Uni in Bochum zurück. Er studiert Germanistik und Geschichte auf Lehramt.
Als er sich gerade in der Umkleide umzieht, hört er, wie ein Mann aus der Dusche schreit. Um Hilfe.
Yasin läuft los, um zu helfen – und prallt auf den Täter.
Nur kurz schauen sich in die Augen. Dann rammt der Täter Yasin das Messer in den Bauch. Die Verletzungen sind heftig. Es beginnt sein Kampf ums Überleben.
Yasin ist stärker als die Verletzungen. Aber das Erlebnis hinterlässt Spuren: „Meine größte Angst ist, dass ich nochmal pflegebedürftig werde“, sagt er. „Dass ich nochmal so krank bin, dass ich nichts mehr machen kann, aber trotzdem irgendwie noch lebe.“
Doch heute kommt Yasin zu einem überraschenden Schluss: Es geht ihm besser als vor dem Messerangriff. Wie kann er das sagen?
Ein Grund für seine neue Stärke ist seine neue Liebe. Ende 2023 hat Yasin seinen Verlobten kennengelernt. In einer Zeit, in der er einen künstlichen Darmausgang hat, drei Mal in der Woche zur Dialyse muss, stark depressiv ist.
„Er hat mich sofort als den genommen, der ich bin“, sagt Yasin. Dieses Gefühl, als ganzer Mensch geliebt zu sein, habe ihn zunächst total überfordert. Dann aber immens aus seiner inneren Dunkelheit herausgeholfen.
Anfang 2023 hat Yasin sich taufen gelassen. Zwei Monate vor dem Messerattentat. Eine starke Probe für seinen Glauben. Yasin sagt: „Wenn du durch so eine schwere Zeit gehst, fragst du dich natürlich: Warum? Warum trifft es mich?“
Eine Frage, bei der er recht schnell dachte: „Weil es so sein soll. Weil Gott mich so auf irgendetwas vorbereitet.“
„Dieses Buch“, damit meint Yasin sein Buch „Vergeben satt Vergelten. Mein Leben nach dem Messerattentat“, das Ende März 2025 erschienen ist.
Auch wenn es für den einen oder die andere fremd klingt, vielleicht lässt sich so langsam verstehen, warum Yasin glaubt: „Das sollte alles so passieren.“