18.12.2024
PERSPEKTIVE

Jan Helmich hat Vorfreude aufs Leben

Er gewinnt Bronze bei den Paralympics, promoviert in Cambridge und fragt sich: Was geht noch alles?

von Tobias Schulte

Jan Helmich mag das Wort „trotzdem“ nicht. 

Der 26-Jährige aus Dortmund hat Bronze im Rudern bei den Paralympics in Paris gewonnen. Zusammen mit Hermine Krumbein im Mixed-Doppelzweier, Starklasse PR3. Neben dem sportlichen Erfolg läuft es für den 26-Jährigen auch akademisch: An der Elite-Universität Cambridge schreibt er gerade seine Promotion im Fach Ingenieurwissenschaften.

Und das alles trotz seiner Behinderung und dunklen Phasen im Leben? Nein. Nicht trotzdem, sondern deswegen. Beziehungsweise: mit all dem.

Helmich sagt: „Alles ist möglich geworden durch eine Reihe von Zufällen und spontanen Entscheidungen, die ich bis zu meinem Aufwachsen mit einer Behinderung zurückverfolgen kann.“

Jans Jugend: Rollstuhl und ständig Schmerzen

Jan Helmich kommt mit zwei Klumpfüßen auf die Welt. Wenn man ihn heute rudern oder gehen sieht, fällt seine Behinderung optisch nicht auf. Bis dahin ist es aber ein langer Weg mit mehr als 20 Operationen. Mit körperlichen und seelischen Schmerzen.

An seinem persönlichen Tiefpunkt ist Helmich zehn oder elf Jahre alt. Er ist gerade auf die weiterführende Schule gekommen. Bei einer Operation wurden ihm die Knochen zwischen Knie und Fuß durchgeschnitten, damit sie mit Hilfe eines „Fixateurs“, einer Art Zahnspange für den Unterschenkel, verschoben werden können. Er geht an Krücken und sitzt im Rollstuhl. Für sechs Monate.

Helmich hat ständig Schmerzen in den Beinen. Er kann kurze Wege im Haus mit Krücken gehen, aber kommt die Treppenstufe nach der Haustür nicht allein mit dem Rollstuhl herunter.

Helmich fühlt unselbstständig. Ans Haus gebunden. Er hat schon seit Jahren das Gefühl, sich selbst durch seine Behinderung im Weg zu stehen. Jetzt zieht er sich immer mehr zurück, sucht keine sozialen Kontakte mehr.

„Wollte nur, dass das Leid aufhört“

Eine hoffnungslose Zeit. „Ich fühlte mich perspektivlos“, sagt Helmich. „Ich habe keinen Weg gesehen, wie es besser wird“. Er kommt an die Grenzen seines Glaubens an Gott. Leidet unter Depressionen. Hat Suizidgedanken. „Ich wollte einfach nur, dass das Leid aufhört“, sagt er.

Zur Not mit radikalsten Mitteln.

Was Helmich vom Suizid abhält, ist der Gedanke an seine Familie. Wie schlimm wäre das für sie? Welche Vorwürfe würden sie sich machen?

Helmichs Mutter spürt immer mehr, wie schlecht es ihrem Sohn geht. Sie setzt sich dafür ein, dass ein Psychologe ihn betreut. Um die Klumpfüße weiter zu behandeln, wird sie ihren Sohn jahrelang zu einem Spezialisten von Dortmund nach Freiburg fahren.

Wer das Gefühl hat, an einer Depression zu leiden oder sich in einer scheinbar ausweglosen Lebenssituation zu befinden, sollte nicht zögern, Hilfe anzunehmen. Hilfe bieten zum Beispiel auch die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800 11 0 111, das Info-Telefon Depression unter 0800 3344533 oder die Stiftung Deutsche Depressionshilfe auf ihrer Website.

Bloß nicht auffallen

Nach der dunkelsten Phase geht es Jan Helmich körperlich und mental langsam besser. Aber er hat immer noch das Gefühl, anders zu sein. Er erzählt, wie er mit seinem Selbstvertrauen zu kämpfen hat. Und sagt: „Wenn du dann auch noch als orthopädische Schuhe dicke schwarze Lederklötze an den Füßen trägst – das ist schon heftig.“ 

Helmich will in der Schule unter dem Radar laufen. Bloß nicht auffallen, bloß nicht als Streber gelten. Also lässt er das Lernen ordentlich schleifen.

In dieser Zeit findet er einen Ort, an dem er sich wohlfühlt: ein neuer Freundeskreis bei der Katholischen Jungen Gemeinde (KjG) St. Bonifatius Dortmund. Helmich sagt: „Da hatte ich das Gefühl, dass ich ICH sein konnte. Bedingungslos. Es war für mich nicht mehr schlimm, anders zu sein mit meiner Behinderung. Die anderen haben mich als Person gesehen und akzeptiert“.

Jan Helmich: „Das hat einen Stein ins Rollen gebracht“

In dieser Zeit steht der Frankreich-Austausch mit der Schule an. Helmich ist bis dahin in Französisch mit Abstand der schlechteste, schreibt eine vier Minus und fünf nach der nächsten. 

Doch in Frankreich spürt er, wie gut er sich mit seiner Gastfamilie und den Austauschschülern unterhalten kann. Es befreit ihn auch, wie selbstständig er in einer fremden Umgebung mit seiner körperlichen Einschränkung klarkommt.

„Da sind total viele Hemmungen von mir abgefallen“, sagt Helmich. „Das hat so wirklich einen Stein ins Rollen gebracht“. Später im Schuljahr geht für vier Monate zurück nach Frankreich und besucht den Unterricht an seiner Austauschschule. 

Er verliert die Angst, durch gute Noten als Streber zu gelten und schließt das Abitur sehr gut ab.

Dann fragt er sich: Wenn ich schon studiere, kann ich dann nicht schauen, welche coole Universitäten es in Europa gibt? Er sieht, dass Cambridge die früheste Bewerbungsfrist der Elite-Unis hat, bewirbt sich und wir angenommen.

Jan will noch "ein paar Dinge im Leben ausreizen“

An der Uni besucht Helmich das traditionelle Ruderrennen zwischen Cambridge und Oxford. Danach probiert er den Sport selbst aus. 

Er ist vom Rudern fasziniert. Trainiert. Wird gefördert. Gewinnt bis heute eine Bronzemedaille bei den Paralympics sowie zwei Silber- und zwei Bronzemedaillen bei Welt- und Europameisterschaften. More to come?!

Das Wort Hoffnung löst heute in Jan Helmich eine Art Vorfreude aus. „Ich möchte schon noch ein paar Dinge im Leben ausreizen“, sagt er. Geht noch mehr als eine Bronzemedaille bei den nächsten Paralympics? Wie weit kann und will er es wissenschaftlich oder beruflich bringen?

Und was kann er noch alles in seiner Freizeit ausprobieren? Fürs Surfen waren seine Fußgelenke zwar zu schwach, aber Reiten und Skifahren hat er schon gelernt. Nicht trotz seiner Behinderung. Sondern mit ihr.

Jan Helmich im PAXCAST

Neben dem Porträt war Jan Helmich auch im PAXCAST zu Gast und hat über sein Leben und seine Erfahrungen gesprochen.

Zur PAXCAST-Folge mit Jan Helmich

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