Antigone (Barbara Fressner) ist fest entschlossen, ihren Willen gegen alle äußeren Einflüsse durchzusetzen. Im Hintergrund der maskierte Chor.
26.10.2020
Titel

Kämpfen oder kapitulieren?

Was es bedeutet, auf die innere Stimme zu hören, zeigt das Stück „Antigone“ am Paderborner Theater

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von Dietmar Gröbing

Wer sich Antigone ins Haus holt, sollte wissen, was er tut. Sie ist widerspenstig, unbequem, rebellisch. Das Theater Paderborn holt sie sogar ins große Haus – auf die größte Bühne des Prachtbaus am Neuen Platz. Wer im Zuschauerraum Platz nimmt, erlebt, wie eine zeitgemäße Interpretation des fast 2.500 Jahre alten Klassikers der Theaterliteratur im Corona-Jahr 2020 den Spiegel vorhalten kann.

442 vor Christus verfasste Sophokles seine Abhandlung über eine aufständische Frau, die sich mit Thebens oberstem Herrscher Kreon (David Lukowczyk/Alexander Wilß) anlegt. Kooperieren oder Insistieren? Sich fügen oder die Krallen ausfahren? Regierungstreu handeln oder die persönliche Überzeugung leben? Antigone (Barbara Fressner/Claudia Sutter), Tochter des Ödipus, zweifelt, hadert, ringt mit sich und kommt letztlich zu dem Schluss, den inneren Drang zur Meuterei über alle äußeren Zwänge zu stellen.

Das wiederum ist dem despotischen Kreon ein Dorn im Auge. Er ist gewillt, Antigones verstorbenem Bruder Polyneikes eine reguläre Bestattung zu verweigern, da er ihn als Verräter ansieht. Trotz drohender Todesstrafe zeigt sich Antigone entschlossen, den Befehl Kreons zu ignorieren. Es beginnt ein sprachlich anspruchsvolles, von einem vierköpfigen Chor kommentiertes Duell um Loyalität, (Ohn-)Macht, staatliche Kontrolle und individuelle Verantwortung.

Staatslenker Kreon (David Lukowczyk) sieht seine Autorität durch Antigone untergraben. Im Hintergrund der vierköpfige, Maske tragende Chor.
Staatslenker Kreon (David Lukowczyk) sieht seine Autorität durch Antigone untergraben. Im Hintergrund der vierköpfige, Maske tragende Chor.

Die Handlung ist eine historische, die Problematik jedoch eine hochgradig aktuelle. Denn in Zeiten von Corona ist es an jeder Bürgerin und jedem Bürger, sich zu entscheiden. Folge ich den von Staatswegen vorgegebenen Richtlinien, oder beharre ich auf die per (Grund-)Gesetz zugestandenen Freiheiten? Der moralisch-ethische Abwägungsprozess ist der zentrale Konflikt der auf 60 Minuten komprimierten Tragödie, die sich von Regisseurin Pauline Neukampf an die viral wie medial beherrschte Gegenwart angepasst sieht.

(Unsichtbare) Masken überall. Dazu eine Großleinwand, die Augen und Münder in grotesker Übergröße reproduziert. Big Brother is watching you. And speaking to you. Natürlich indirekt, natürlich aus der Distanz, natürlich unpersönlich. Selbst die Figuren, die szenisch interagieren, scheinen aneinander vorbei zu reden, vermeiden direkten Kontakt. Hier macht jeder sein Ding, hier trägt jeder einen Panzer. Abstand als neue Nähe, Überwachung als Kontrollinstrument.

Noch mehr gesellschaftlicher Spiegel gefällig? Nur zu, denn selbst das Publikum sieht sich verdoppelt, sind auf der Bühne doch mehrere Sitzreihen installiert, von denen der maskierte Chor Richtung Zuschauermenge starrt. Und wir starren zurück. Und sehen: Uns selbst. Der Blick in den Spiegel als Moment der Selbsterkenntnis? Vielleicht. Sofern man das Schauspiel als mahnendes Lehrstück begreift. Versteht man es als rabenschwarze Komödie, fällt zumindest der ein oder andere Lacher ab.
Und Antigone? Die streitet bis zum Schluss für hehre Ziele. Jenseits von Genres und Gattungen, Zuschreibungen und Umschreibungen. Denn Gerechtigkeit und Nächstenliebe kennen keine Stilrichtung, keine Kompromisse, keine Anpassung an willkürlich wechselnde Moden. Sie sind über jeden Zeitgeist erhaben.

Antigone (Barbara Fressner) sieht sich Angriffen auf ihre persönliche Freiheit ausgesetzt. Im Hintergrund der maskierte Chor.
Antigone (Barbara Fressner) sieht sich Angriffen auf ihre persönliche Freiheit ausgesetzt. Im Hintergrund der maskierte Chor.

Die nächsten Aufführungen sind am 30.10., 31.10., 6.11., 7.11., 4.12., 6.12., 10.12., 17.12., 27.12., 3.1. und 28.1. Vorstellungen jeweils ab 18.30 und 20.30 Uhr (keine Pause). Es wird mit Erst- und Zweitbesetzung gespielt. Das Stück ist für Jugendliche ab 14 Jahren geeignet. Mehr Infos unter www.theater-paderborn.de

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