Laura hält ihre Gedanken während der Magersucht in einem Tagebuch fest
07.02.2023

Lauras Kampf gegen die Magersucht

Wenn das Essen zur Qual wird

von Theresa Oesselke


In diesem Artikel geht es um das Thema Magersucht und Essstörungen. Wenn du dich damit nicht wohlfühlst, lies den Text nicht weiter oder nicht allein. Unten auf der Seite findest du Hilfsangebote, an die du dich bei Bedarf wenden kannst.

Möglichst wenig essen, jedes Gramm kalkulieren, täglich zwei Stunden Sport machen, bloß nicht zunehmen. Das war das Leben von Laura. Ihr Leben mit der Magersucht. Aber irgendwann stand sie vor der Wahl: Leben oder Sterben. Die Ärzte im Krankenhaus gaben Laura und ihrem Körper noch eine Woche, wenn sie nicht sofort etwas an ihrem Leben ändern würde. Laura hat sich dafür entschieden, zu leben. Der Beginn eines langen Kampfes.

Wenn Sport zum Wahn wird

Laura möchte anderen Betroffenen Mut machen. Sie sagt: „Wenn du magersüchtig bist, denkst du, du bist komplett alleine. Keiner versteht dich. Du verstehst dich selbst nicht, andere verstehen dich nicht. Und dann tut es gut, jemanden zu sehen, der das auch erlebt hat und sagt, dass es Hoffnung gibt und wieder besser werden kann.“

Anorexia nervosa

Die Magersucht, in der Fachsprache Anorexia nervosa genannt, ist eine Essstörung, an der überwiegend junge Frauen erkranken. Man geht davon aus, dass zur Entstehung einer Magersucht verschiedene Faktoren beitragen. Dazu zählen biologische Faktoren (z.B. genetische Veranlagung, neurobiologische Veränderungen), soziokulturelle Faktoren (z.B. gesellschaftliches Schönheitsideal), familiäre Faktoren (z.B. Beziehungsmuster, Konfliktvermeidung), individuelle Faktoren (z.B. Selbstwertproblematik, Perfektionismus) und einschneidende Lebenserfahrungen (z.B. kindliche Traumata).
Betroffene versuchen ihr Essverhalten stark zu kontrollieren und nehmen immer weiter ab. Gleichzeitig erleben sie sich selbst jedoch häufig als zu dick und leben in ständiger Angst davor, zuzunehmen oder die Kontrolle über ihr Essverhalten zu verlieren.
Die Sterblichkeit liegt bei ca. 10% und ist damit deutlich höher als die bei Depressionen oder Schizophrenie.

Laura war schon immer sportlich. Kurz vor dem Abi stürzte sie sich in einen Fitnesswahn. Sie fing an, ihren Körper auszumessen, weniger zu essen und jeden Tag Sport zu machen. Laura wurde immer dünner und schwächer. Innerhalb von drei Monaten verlor sie die Hälfte ihres Körpergewichts.
Gleichzeitig stieß Laura ihre Familie und Freunde immer mehr von sich weg. Sie wollte nicht mehr raus, schloss sich zuhause ein. Ihr fehlte die Kraft. Durch die geringe Kalorienzufuhr war Lauras Körper so schwach, dass er in den Survival-Modus schaltete. Die Folge: Depressionen.

Stimmen im Kopf lösen Magersucht aus

Schon immer hatte Laura das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Im Studium, für ihre Freunde, für sich selbst. Sie hatte auch das Gefühl, für andere zu viel zu sein. Das versuchte sie durch ihren dürren Körper zu reduzieren. Doch durch die Magersucht werden die negativen Stimmen in ihrem Kopf immer nur lauter: „Du bist nicht genug.“ „Du darfst das alles nicht essen.“ „Du bist zu viel.“ Laura fühlt sich durchgängig kritisiert von einer Stimme in ihrem Kopf. Diese Stimme ihres kranken Ichs.

Mit der Zeit schwinden Lauras Kräfte und ihr Lebenswille immer mehr:
Laura darf kein Auto mehr fahren, keine Einkaufstüten mehr tragen, keine Treppen mehr steigen. Jeder Schritt tut weh. Sie kann sich nicht mehr konzentrieren, kein Buch mehr lesen, nicht mehr studieren. Ihre Hosen muss sie in der Kinderabteilung kaufen. Selbst im Sommer bei 30 Grad läuft ihre Heizung auf 5, weil sie so friert. Irgendwann ist es Laura alles zu viel. Sie nimmt eine Überdosis ihrer Tabletten – in der Hoffnung, dass dann alles aufhört. Aber Lauras Mutter findet sie rechtzeitig in der Küche.

Die Magersucht als beste Freundin

Laura hat gemerkt, dass ihre Familie und Freunde ihr helfen wollten – aber sie wollte die Hilfe nicht annehmen. Zumindest das kranke Ich in ihr. Sie war schon immer eine Einzelkämpferin. Ihre Schwester rührte ihr heimlich Sachen ins Trinken. Laura fühlte sich dadurch hintergangen. Sie war sauer auf alle, die ihr helfen wollten. Das erklärt sie so: „Die Magersucht war meine beste Freundin. Und Menschen, die mir helfen wollten, haben quasi versucht, mir meine beste Freundin wegzunehmen.“

Wenn Laura all das erzählt, kommt die Frage auf, was sie in der Magersucht gehalten hat. Warum sie nicht gemerkt hat, dass sie ihr nicht guttut. Darauf antwortet sie: Ich hatte das Gefühl, mein Leben nicht unter Kontrolle zu haben – bis auf eine Sache: die Kalorien. Ich habe meine Kalorien gezählt, meine Bewegung, alles gezählt und aufgeschrieben. Und: Es gab mir das Gefühl, das Idealbild der Gesellschaft zu erfüllen.“ 

Laura wollte immer das Idealbild der Gesellschaft erfüllen. Aber das hat nie geklappt. Auch nicht durch das Abnehmen. Als Laura das feststellt, ist es beinah zu spät.

Laura während der Zeit ihrer Magersucht

Lauras Tipp für Angehörige und Freunde von Magersüchtigen:

„Sprecht niemals das Essverhalten einer Person an oder macht Kommentare zu ihrem Gewicht. Seid als Freunde da und hört einfach nur zu, auch wenn es euch schwer fällt.“

Als das Leben auf der Kippe steht

Lauras Leben ändert sich schlagartig an einem Abend. Sie ist zuhause und wird plötzlich gelb im Gesicht. Ihre Schwester misst Lauras Puls: 34 Herzschläge pro Minute. Halb so viel wie normal.
Sofort fahren sie ins Krankenhaus. Die Diagnose: Leberversagen. Laura begreift zum ersten Mal: Wenn sie nicht sofort handelt und etwas an ihrem Leben ändert, wird sie sterben. Die Ärzte geben ihrem Körper noch eine Woche. Laura muss sich entscheiden: Will sie leben oder nicht? Eine Entscheidung, die ihr nicht leichtgefallen ist, wie sie erzählt. Die Depressionen hatten sie im Griff. Heute sagt sie: „Eigentlich wollte ich nicht sterben. Ich wollte nur, dass diese Stimmen aufhören.“

Raus aus der Magersucht und dem Leben eine Chance geben

Laura entscheidet sich, zu leben. Sie will dem Leben noch eine Chance geben. Sie denkt: „Irgendwas muss ich ändern. Ich muss es selbst wollen. Wenn ich es selbst nicht will, habe ich verloren.“ Damit beginnt ihr langer Weg zurück ins Leben. Sie fängt an, wieder mehr zu essen. Ihre Lebensfreude kommt langsam zurück.

„Zwei Strang-Therapie“

Für die Behandlung einer Magersucht erfolgt häufig eine sogenannte „Zwei-Strang-Therapie“. Es geht einerseits darum, dass die betroffene Person wieder ein normales Körpergewicht erreicht, wieder normal essen kann und die verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers bearbeitet. Andererseits müssen auch die Problembereiche behandelt werden, die hinter der Magersucht liegen und diese aufrechterhalten. Typische Bereiche sind mangelndes Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl, extremes Leistungsstreben und Perfektionismus sowie übermäßiges Bedürfnis nach Kontrolle, die Angst vor dem Erwachsenwerden, Abgrenzungs- und Durchsetzungsprobleme in Verbindung mit geringer Wahrnehmung eigener Gefühle und Bedürfnisse sowie Probleme im Bereich der Sexualität.
Die Behandlung ist stationär und ambulant möglich.

Sich selbst kennenlernen

Um mit den negativen inneren Stimmen umzugehen, beginnt Laura, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Mit ihrer Vergangenheit, ihrem Charakter. Sie verbringt viel Zeit für sich allein, lernt sich selbst kennen und merkt, dass es gut ist, nicht so zu sein, wie die anderen. Das hilft ihr aus der Magersucht heraus.
Laura lernt ihr gesundes Ich kennen und stellt sich die Frage: „Was möchte ich im Leben? Wie kann ich das erreichen?“ Sie fängt an, Pläne zu schmieden: um die Welt reisen, neue Menschen kennenlernen, eine eigene Familie gründen, sehen, wie die eigene Schwester heiratet. All das geht nur, wenn sie dem Leben eine Chance gibt. Wenn sie ihr Leben leben will.

Mit der Magersucht leben lernen

Bis heute ist das Leben für Laura ein ständiger Kampf. Sie weiß: Rückfälle wird es ihr ganzes Leben lang geben. Die depressiven Gedanken sind auch heute noch ein Teil von Lauras Leben, aber sie hat gelernt, damit umzugehen. Gelernt, der Stimme ihres kranken Ichs nicht mehr zuzuhören. Heute kann Laura normal Sport machen. Sie trainiert für einen Marathon – aber nicht, um Kalorien zu verbrennen, sondern um den Kopf freizukriegen.

Wenn Laura heute zurückschaut, ist sie dankbar für ihre Erfahrungen, auch wenn es eine schwere Zeit war: „Die Magersucht hat mir viel Schlechtes gebracht, aber auch sehr viel Gutes: Mich und mein Leben zu reflektieren. Ich habe so viel über mich und das Leben gelernt. Ich bin geerdet. Ich fühle mich so wohl, habe mich lieben gelernt und spüre ein tiefes Gefühl von Zufriedenheit. Und ich weiß nicht, ob ich das erfahren hätte, wäre ich nicht krank geworden.“

»Die Magersucht hat mir viel Schlechtes gebracht, aber auch sehr viel Gutes. Ich habe mich lieben gelernt und spüre ein tiefes Gefühl von Zufriedenheit. Und ich weiß nicht, ob ich das erfahren hätte, wäre ich nicht krank geworden.«

Laura 
über die Erfahrung ihrer Magersucht

Hilfsangebote

Internetseiten mit Informationen rund um Essstörungen und Hilfsangebote: 

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
Bundesfachverband Essstörungen
Landesfachstelle Essstörungen NRW

Buchtipps:

Antonia Wessling: Wie viel wiegt mein Leben?
Thomas Paul/Ursula Paul: Ratgeber Magersucht. Informationen für Betroffene und Angehörige

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