20.06.2022
Body+Soul

Über Missbrauch reden statt zu schweigen

Wie mich das Thema beschäftigt – und was ich bei einem Praktikum in Rom gelernt habe

Von Theresa Oesselke

In diesem Artikel geht es um das Thema Missbrauch. Wenn du dich damit nicht wohlfühlst, lies den Text bitte nicht weiter oder nicht allein. Unten auf der Seite findest du Hilfsangebote, an die du dich bei Bedarf wenden kannst.

Die Mutter meiner Freundin wurde missbraucht. Von einem katholischen Priester. Es geht um geistlichen Missbrauch, Machtmissbrauch und sexuellen Missbrauch. Acht Jahre lang. Dreimal hat er sie zur Abtreibung gezwungen. Mehrfach hat sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Ihre traumatischen Erlebnisse hat sie danach verdrängt. Für 25 Jahre.

Dann wurde nach und nach klar, in welchem Ausmaß es Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche gab. Durch die Nachrichten über den Missbrauchsskandal waren die schmerzhaften Erfahrungen bei der Mutter meiner Freundin plötzlich wieder da. Was sie verdrängt hatte, war wieder aktuell. Erneut versuchte sie mehrfach, sich das Leben zu nehmen. Die gute Nachricht: Sie lebt noch und setzt sich heute für Betroffene ein.

Seit ich davon erfahren habe, ist das Thema Missbrauch für mich kein abstraktes, entferntes Thema mehr, sondern plötzlich ganz konkret und persönlich geworden. Aus Statistiken mit anonymen Zahlen ist für mich auf einmal ein konkretes Gesicht geworden.

Auch wissenschaftlich interessiere ich mich schon länger für die Thematik. Ich studiere Theologie und beschäftige mich vor allem mit den kirchenrechtlichen und psychologischen Aspekten des Missbrauchs. Also habe ich mich für ein Studienpraktikum in Rom entschieden, dem Herz der Weltkirche. Hier gibt es ein Forschungsinstitut, das sich mit den Fragen des Missbrauchs und der Prävention beschäftigt. Das Institute of Anthropology – Interdisciplinary Studies on Human Dignity and Care, kurz IADC.

Für vier Wochen habe ich am IADC mitgearbeitet. Dabei habe ich mich vor allem mit didaktischen Fragen zur Präventionsarbeit befasst. Neben der Recherchearbeit im Büro konnte ich auch einen Einblick in Vorlesungen der verschiedenen Studiengänge zum Safeguarding bekommen. Während dieser Zeit habe ich zwei Grundsätze gelernt.

Die Päpstliche Universität Gregoriana in Rom

Institute of Anthropology

Das Institute of Anthropology ist aus dem 2012 in München gegründeten Zentrum für Kinderschutz hervorgegangen. Es ist seit Herbst 2021 ein akademisches Institut der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, das interdisziplinäre Forschung zur menschlichen Würde und zum Schutz von vulnerablen Personen fördert. Dafür werden Menschen ausgebildet, die sich im Bereich des Safeguarding einsetzen wollen. Inzwischen zählt das Institut 152 Alumni mit 56 Nationalitäten.
Weitere Informationen unter: https://iadc.unigre.it/

Victims first

Der wichtigste Grundsatz lautet: Victims first. Wenn man sich mit dem Thema Missbrauch beschäftigt, muss es Grundlage und Voraussetzung sein, den Betroffenen zuzuhören und von ihnen zu lernen.

Was ich gelernt habe: Dass es sehr unterschiedlich ist, wie sich eine Person mit ihrer Erfahrung selbst bezeichnet: als Opfer, als Betroffene oder als Überlebende des Missbrauchs.  Außerdem habe ich erfahren, wie ein Missbrauchsfall nicht nur die Opfer selbst betrifft, sondern das ganze soziale Umfeld: Familie, Freunde, Kirchengemeinde, Ordensgemeinschaft, Familie der Täter etc. – sekundär Betroffene nennt man sie in der Fachsprache.

Cultural sensitivity

Neben dem Gespräch mit Betroffenen von sexuellem Missbrauch waren die wertvollsten Erfahrungen meines Praktikums die Begegnungen mit Studierenden aus der ganzen Welt. Vor allem aus Lateinamerika. Darin steckt der zweite wichtige Grundsatz, den ich während meines Praktikums gelernt habe: cultural sensitivity.

Die Vielfalt der Kulturen würdigen, einen kritischen Dialog führen und die kulturelle Umsetzung von Schutzmaßnahmen fördern. Für manche gilt Missbrauch leider noch immer als ein Problem des Westens.

Wir wiederum beurteilen aus unserer westlichen Perspektive die Situation in anderen Teilen der Erde. Hier braucht es ein kulturelles Gespür für einen konstruktiven Dialog und die Umsetzung von Präventionsmaßnahmen zum Wohl aller Menschen.

Andrés Baumgartner

„Als Katholik glaube ich, dass es die Verantwortung eines jeden ist, das Problem des Missbrauchs innerhalb der Kirche anzusprechen, da es ihren eigenen Auftrag betrifft.“

Andrés Baumgartner

Sich für Betroffene einsetzen

Einer, der sich für Missbrauchsbetroffene und die Umsetzung von Schutzmaßnahmen einsetzen möchte, ist Andrés Baumgartner. 30 Jahre alt und aus Kolumbien. Er arbeitet als Banker in der Schweiz, aber studiert zurzeit Safeguarding am IADC, um danach in die Präventionsarbeit zu wechseln.

Das wichtigste sind für Andrés die Beziehungen zu den Betroffenen. Er erzählte mir, dass viele ihrer Erfahrungen sein Herz getroffen haben und die Kirche ihnen bislang zu wenig zugehört habe. Das möchte er ändern. In der Schweiz wird er sich nach Abschluss des Diplomstudiums vor allem in der Arbeit mit Betroffenen einbringen.

„Wenn wir die Botschaft Christi von der Liebe Gottes weitergeben wollen, können wir es uns nicht leisten, die Wahrheit zu verbergen, wie hart sie auch sein mag.“

Andrés Baumgartner

Von der Kirche erwartet Andrés, dass sie zuerst den Betroffenen zuhört und die Vergangenheit anerkennt. Er weist daraufhin: „Wenn wir die Botschaft Christi von der Liebe Gottes weitergeben wollen, können wir es uns nicht leisten, die Wahrheit zu verbergen, wie hart sie auch sein mag.“

Sensibilität ist das A&O

Sensibilität – das ist das Stichwort, mit dem sich meine Erfahrungen der vier Wochen in Rom zusammenfassen lassen. Und das in vielerlei Hinsicht: Sensibilität im Umgang mit Betroffenen, Sensibilität für sekundär Betroffene, Sensibilität für kulturelle Kontexte. Aber vor allem auch Sensibilität für meine eigenen Erfahrungen.

Das Praktikum hat mir nochmal eindrücklich vor Augen geführt, wie schnell wir uns im Alltag in verschiedenen Machtgefällen und Abhängigkeitsverhältnissen befinden – in Schule, Uni und Arbeit, beim Arzt etc.

Letztlich kann jede Beziehung zwischen Menschen anfällig für Missbrauch sein. Ich bin sensibler dafür geworden, wo ich Nähe oder wo lieber Distanz möchte.

Ganzheitliche Aufarbeitung

Sensibilität braucht es auch bei der Aufarbeitung der Missbrauchsereignisse in der Kirche. Es geht dabei nicht nur um sexuellen Missbrauch, sondern auch Amtsmissbrauch und geistlichen Missbrauch.

Zudem sind häufig nur Kinder und Jugendliche als Missbrauchsopfer im Blick. Das katholische Kirchenrecht kennt unter bestimmten Umständen zwar auch einen Missbrauch von Erwachsenen, doch fehlen hier transparente Kriterien zur Anwendung der Gesetze. In der Kirche begegnen wir auch Erwachsenen, vor allem Frauen, die Missbrauch in seinen verschiedenen Formen erlebt haben.

So auch im Fall der Mutter meiner Freundin. Sie war zum Zeitpunkt der ersten Missbrauchstat eine junge Studentin, 19 Jahre alt. Auch wenn sie damit bereits volljährig war, wehren konnte sie sich gegen den Missbrauch nicht. Jahrzehnte danach befindet sie sich noch immer in einem schmerzhaften Heilungsprozess. Ihren Kampf mit den kirchlichen Behörden um Entschädigungszahlungen hat sie inzwischen aufgegeben. Nun beschäftigt sie sich als Wissenschaftlerin mit Autorität und Missbrauch in der Kirche.

Ich bewundere ihre Kraft und ihren Mut, sich für die Betroffenen einzusetzen und trotz ihrer schmerzhaften Erfahrungen noch in der Kirche zu bleiben. Ihr Zeugnis zeigt, was mir auch in den vier Wochen meines Praktikums nochmal bewusst geworden ist: Wir können die Vergangenheit nicht mehr rückgängig machen, aber wir können und müssen alles dafür tun, daraus zu lernen und die Kirche zu einem sicheren Ort für alle Menschen zu machen.

Hilfsangebote

Solltest du selbst von Missbrauch betroffen sein oder jemanden kennen, findest du hier Unterstützung:

www.hilfeportal-missbrauch.de
(umfangreiche Datenbank mit Beratungs- und Hilfeangeboten vor Ort für Betroffene, Angehörige und Fachkräfte)

Hilfetelefon Sexueller Missbrauch: Tel. 0800 2255530 (kostenfreies und anonymes Hilfetelefon für Betroffene, Angehörige, Fachkräfte und alle Menschen, die Fragen zum Thema sexueller Kindesmissbrauch haben)

Missbrauchsbeauftragte des Erzbistums Paderborn: https://www.erzbistum-paderborn.de/beratung-hilfe/hilfe-bei-missbrauch/

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