Was in den Jahrtausende alten Gebeten steckt
Ich bin ein aktiver Mensch. Ich brauche und liebe Bewegung. Und ich bin gerne produktiv. Am liebsten erledige ich mehrere Dinge gleichzeitig. Rumsitzen oder nichts tun kann ich nicht gut. Meditieren, Yoga oder Autogenes Training sind nichts für mich. Doch: Ich versuche, mir jeden Tag Zeit fürs Gebet zu nehmen und Kraft aus dem Glauben zu schöpfen.
Ich fühle mich auf dem Glaubensweg noch recht am Anfang. Manchmal schiebe ich das Gebet auf, oft bin ich in Gedanken ganz wo anders. Ich möchte lernen, wie mein Gebet zu einem persönlichen Dialog zwischen Gott und mir werden kann. Gottes Gegenwart deutlicher spüren, seine Stimme klarer hören, seinen Plan für mich erkennen.
Deshalb steige ich nach dem Masterabschluss in den Flieger – um in Spanien in einem Kloster mit zu leben. Ich habe die Schwestern von Maria Stella Matutina zuvor bei einem Bibelnachmittag in Deutschland kennengelernt. Sie strahlten so eine Weisheit und Liebe aus, die mich sofort begeisterte. Hier nehme ich euch mit in zwei verschiedene Gebetsformen des Klosters. Zuerst: Das Stundengebet, das Gebet der Psalmen.
»Ich möchte lernen, wie mein Gebet zu einem persönlichen Dialog zwischen Gott und mir werden kann.«
Es ist soweit. Gemeinsam mit sechs anderen Studentinnen aus Polen, Mexiko und Frankreich bin ich zu Gast bei den 45 Schwestern der Gemeinschaft Maria Stella Matutina. Die Schwestern sind durchschnittlich 30 Jahre alt und kommen aus der ganzen Welt.
Mein Wecker klingelt um 4:45 Uhr. Ich bin müde. Verschlafen. Muss das wirklich sein? Das kuschelige Bett zu verlassen, um diese Uhrzeit? Ein Blick auf mein Handy. Ich habe den Alarm danach benannt, wie Jesus den blinden Bartimäus ruft: „Hab Mut, steh auf, ER ruft dich!“ (Mk 10, 49 ). Ganz so viel Elan habe ich nicht. Aber ich gebe mir einen Ruck und stehe auf.
Der Begriff Stundengebet bezeichnet die Gebetszeiten, die von Klerikern und geistlichen Gemeinschaften auf der ganzen Welt zu bestimmten Stunden im Tagesverlauf verrichtet werden. Auch Laien wird diese Form des Gebets empfohlen, um sich im Laufe des Tages immer wieder bewusst zu machen, diesen mit Gott zu leben. In Klöstern ist das Stundengebet oft umfangreicher und wird häufig gesungen. Laien und Kleriker, die zum Beispiel noch Aufgaben in einer Pfarrei haben, beten eine kürzere Form.
Die Vigil wird am Vorabend oder am frühen Morgen verrichtet. Die Laudes wird am Morgen gebetet, Terz, Sext und Non zur dritten, sechsten und neunten Stunde des Tages, die Vesper am Abend und die Komplet ist das Nachtgebet der Kirche.
Das alttestamentliche Buch der Psalmen stellt einen wichtigen Bestandteil dieser Gebetszeiten dar. Die 150 Psalmen sind poetische Texte an Gott oder über Gott. Entstanden aus den Erfahrungen Israels mit Gott, beinhalten sie in Klagen, Bitten, Lob und Dank das gesamte Spektrum menschlicher Gefühle. Durch die jüdische und christliche Geschichte hindurch werden die Psalmen gebetet und zu jeder Zeit finden sich viele Menschen darin wieder.
Um 5:15 Uhr treffen sich die Schwestern, um den Tag im Gebet zu beginnen. Auch wir Studentinnen sind zur Vigil eingeladen. Wenn man es einmal aus dem Bett geschafft hat, ist es ein tolles Gefühl, vor Sonnenaufgang mit dem Gebet zu beginnen.
„Herr, öffne meine Lippen“ – das sind die ersten Worte der Schwestern jeden Tag. Sie zeichnen sich ein Kreuz auf die Lippen. Auch wenn mein Körper noch halb im Schlaf und meine Gedanken teilweise noch in meinen Träumen sind, tue ich es den Schwestern gleich und bemühe mich, mit diesem ersten Wort mich und meinen Tag auf Gott auszurichten, Kontakt zu ihm herzustellen.
Das Stundengebet strukturiert den Tag der Schwestern, wie unzähliger anderer Gläubigen auf der ganzen Welt. Vor allem Ordensleute und Priester haben sich dem Gebet versprochen.
Ich bin mit dieser Form des Gebets nicht wirklich vertraut. Ich frage mich: Wozu diese vorgefertigten Gebete? Wozu im Chor diese uralten Texte singen? Wäre nicht ein freies Gebet viel persönlicher? Kommt es nicht viel eher von Herzen? Ich spüre, wie ich zwar den Text in meinem Psalter mitlese, aber meine Gedanken immer wieder abschweifen. Ich versuche, diese Verse bewusst als mein persönliches Gebet zu lesen.
Als ich später mit den Schwestern über meine Erfahrungen spreche, sagen sie, dass sie die Psalmen so schätzen, weil sie aus dem Glauben Israels erwachsen sind. Sie sprechen von einem Gebetsschatz, der uns in die Tradition unzähliger Generationen von Betern stellt.
Sie erklären mir, dass Geist und Stimme gemeinsam beten sollen. Hier seien nun die Worte meinem Geist voraus. Ich solle mich von meiner Stimme führen lasse. Meine Gedanken und mein Herz würden sich schon einfinden.
Diese Form des Gebets wird mir mit der Zeit immer vertrauter. Ich entdecke immer mehr Power in den uralten Gebetsworten und in den Melodien der Schwestern. Was diese Texte über menschliche Erfahrungen in den verschiedensten Lebenslagen sagen, fasziniert mich.
Doch: Ich verstehe nicht alles. Manches ist mir völlig fremd. Zum Beispiel, wenn ich bete , dass auf die, die mich umzingeln, glühende Kohlen gehäuft werden, wie es in Psalm 140 heißt. In anderen Psalmen kann ich mich dagegen sofort wiederfinden.
»Ich entdecke immer mehr Power in den uralten Gebetsworten und in den Melodien der Schwestern. «
Auch wenn die Sprache nicht meine ist – ich kenne die Gefühle, die ausgedrückt werden. Sei es Einsamkeit und Verzweiflung oder Dankbarkeit und Freude. Die Psalmen beschreiben mit den verschiedensten Worten, wie Gott wirkt und wie er ist. Er ist eben weit mehr als der „liebe Gott“. Auch mehr als „meine Stärke“, „meine Zuflucht“ oder „mein Retter“. Die Psalmen bringen auch zum Ausdruck, wie mächtig, gewaltig und grenzenlos Gott ist. Ich spüre, wie ich Gott und auch mich selbst durch diese Gebete immer besser kennenlernen darf.
Beim Beten der Psalmen kommen Fragen in mir auf. Zum Beispiel: Wo habe ich Gott wie in meinem Leben erlebt? Und was traue ich Gott ihm wirklich zu? Manchmal mache ich mir nach dem Gebet eine kleine Notiz, wenn mich ein Vers besonders angesprochen hat. Oder wenn ich einen persönlichen Gedanken oder eine Erfahrung festhalten möchte. Diese Gebetszeiten werden zu einem wichtigen Teil der Antwort auf meine persönliche Bitte: „Herr, lehre mich beten!“ (Lk 11,1).
Hier, im Kloster, ist mir klar: Im Alltag werde ich nicht die Zeit haben, so viel zu beten wie hier. Dann werden Gebetszeiten nicht fest im Kalender stehen. Ich muss mir bewusst Zeiten dafür einplanen und mich selbst motivieren. Das klappt nicht immer. Doch eines lerne ich durch das Gebet der Psalmen im Kloster: dass ich mit Gott durch den Tag gehe.