Rettungsdienst, Altenheim, Feuerwehr - sollte ein sozialer Dienst nach der Schule verpflichtend sein?
Wird ein sozialer Dienst nach der Schulzeit bald Pflicht? Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat angeregt, öffentlich darüber zu diskutieren. Deshalb nähern sich Till und Tobias aus dem YOUPAX-Team dem Thema Soziales Pflichtjahr in einem Pro und Contra.
Gleich vorweg: Ich habe keinen Wehr- oder Zivildienst mehr leisten müssen und war nach der Schule froh darüber. Kein Jahr verschenken, direkt das tun, was ich gerne möchte – perfekt. Aber wäre ein soziales Pflichtjahr wirklich verlorene Zeit?
Wenn es nur als Konstrukt dient, um billige Arbeitskräfte für Krankenhäuser oder Pflegeheime zu generieren, dann sage auch ich klar: Ne, sowas braucht kein Mensch, völliger Unsinn. So ein soziales Pflichtjahr macht nur so richtig Sinn, wenn die Politik dafür auch die richtigen Bedingungen schafft. Dann kann für die Gesellschaft aber ein richtiger Mehrwert: Junge Leute können sich weiterentwickeln, ihren Horizont erweitern, „über den Tellerrand blicken“, wie man immer sagt.
Ich glaube, allein das Wort gibt dem ganzen natürlich einen negativen Touch: soziales Pflichtjahr. Klingt nicht wirklich geil.
Aber ich glaube, es muss auch gar keine aufgezwungene Pflicht sein. Warum nicht mit der Einstellung reingehen: ein Jahr Gutes tun. Ein Jahr Menschen helfen. Ein Jahr für Andere da sein. Ein Jahr zeigen: Meine Mitmenschen sind mir nicht egal – wir sind eine große Gemeinschaft. Quasi wie die 72-Stunden-Aktion des BDKJ – nur in länger. Wäre das nicht total dem christlichen Sinn entsprechend?
»Ein Jahr zeigen: Meine Mitmenschen sind mir nicht egal – wir sind eine große Gemeinschaft. Quasi wie die 72-Stunden-Aktion des BDKJ – nur in länger. Wäre das nicht total dem christlichen Sinn entsprechend?«
Am Ende werden sich Einige sagen: Was für ein verlorenes Jahr, das hätte ich mir sparen können. Und im besten Fall: finden manche in ihrem Einsatzgebiet ja sogar ihre Erfüllung. Eine große Hoffnung wäre, dass sich durch die Zeit eine noch größere Wertschätzung für den Dienst in der Gesellschaft nachhaltig verankert.
Mir gefällt die Vorstellung total gut. Das Leben, und damit vielleicht auch Gott, hat uns doch schon oft gezeigt: Manchmal braucht man auch einen Stups raus aus der eigenen Komfortzone, um sein Glück und den eigenen Weg zu finden.
Wenn ich auf die Idee des Sozialen Pflichtjahres schaue, dann habe ich Tommi Schmitt im Ohr. Bei Gemischtes Hack und auch anderen Podcasts hat er erzählt, wie wichtig sein Zivildienst für ihn war: „Da habe ich viel über die Welt nachgedacht. Es hat mir mehr gebracht als glaube ich 13 Jahre Schule“.
Wenn Tommi Schmitt das Soziale Pflichtjahr richtig findet – dann finde ich das auch. Oder?!
Als Jugendlicher war es für mich kein Thema, ein Soziales Jahr zu machen. Heute denke ich: Mir hätte ein Soziales Pflichtjahr mega gut getan. Um mehr einen Blick für die anderen zu bekommen. Um zu lernen, anzupacken.
Und wenn mir ein sozialer Dienst gut getan hätte – dann sicher auch vielen anderen jungen Menschen. Ganz zu schweigen von der positiven Dynamik, die das in Altersheimen, Krankenhäusern, bei der Feuerwehr und Co. auslösen könnte.
Aber, aber, aber. Erstens frage ich mich, wie es logistisch gut gelingen kann, wenn jedes Jahr Hunderttausende junge Menschen auf soziale Einrichtungen verteilt und dort für ihr Pflichtjahr angelernt und betreut werden müssen.
Zweitens merke ich auch, dass ich den persönlichen Gewinn aus dem Sozialen Pflichtjahr auch idealisiere. Dass ich denke: Ach, wenn ich das damals nur gemacht hätte, wäre ich heute ein anderer Mensch. Dann hätte ich es heute leichter.
Ich glaube: Das ist nur ein Wunsch. Vielleicht sogar eine Illusion. Dazulernen und Gutes tun – dazu habe ich jederzeit die Möglichkeit. Nicht nur im Altenheim nach dem Abi. Es gibt immer Menschen und Situationen, die mich herausfordern und wachsen lassen können. Die den Blick für alle öffnen. Jesus ist so ein Mensch, zum Beispiel.
Jetzt gerade merke ich, dass ich mich wie ein Berater meines jüngeren Ichs fühle. Weil ich denke, dass ich weiß, was gut für ihn ist: einen sozialen Dienst nach der Schule zu machen.
Aber ich kann nicht in die Vergangenheit eingreifen. Ich kann vielleicht nur lernen, meinem jüngeren Ich die Freiheit zu lassen, seinen eigenen Weg zu gehen. Genauso wie anderen jungen Menschen auch. Dass man lernt, was gut für mich und andere ist. Dass man selbst reflektieren und gute Entscheidungen treffen kann. Für Ehrenamt, Freizeit und Beruf. Das wäre doch mega für alle.
„Wir müssen uns fragen, was das eigentliche Ziel dieser Debatte ist“, betonte Diözesan-Caritasdirektorin Esther van Bebber bei einer Diskussionsrunde des Caritas-Diözesanverbands Paderborn. Aus ihrer Sicht bieten beide Varianten Vor- und Nachteile: Ein verpflichtendes Modell könne die gesellschaftliche Anerkennung in der Breite stärken und die damit verbundenen Berufsfelder zugänglich machen. Trotzdem müsse man „das mildeste und geeignetste Mittel finden, um mehr Menschen für soziales Engagement und einen Beitrag zur Gesellschaft zu bewegen“.
Aus politischer Sicht standen sich die Positionen von Dagmar Hanses MdL (Bündnis 90/ Die Grünen) und Dr. Carsten Linnemann MdB (CDU) gegenüber. Hanses befürchtet, dass mit einem Pflichtmodell eine „Sünde an der Zukunft der jungen Generation“ begangen werde.
Diese hätte schon durch die Coronapandemie genug zurückstecken müssen. Ein soziales Pflichtjahr, so die Politikerin, wäre wohl schwer mit dem Recht auf freie Berufswahl zu vereinbaren und bedeute ein mögliches Belastungspotential für soziale Einrichtungen, die dann mit nicht geeigneten Menschen ohne Motivation ihren Alltag meistern müssten.
Dr. Carsten Linnemann hingegen setzt klar auf ein Pflichtjahr, würde es in Gesellschaftsjahr umformulieren und deutlich im Angebot ausweiten: von Vereinen bis Katastrophenschutz und Stiftungswesen. Außerdem müsste die Möglichkeit zu berufsbegleitenden Lösungen über mehrere Jahre mitgedacht werden, so dass die aktive Wahrnehmung gesellschaftlicher Grundaufgaben seitens des Einzelnen nicht mehr als Pflicht, sondern als sinnstiftende Aufgabe wahrgenommen würde. Es sei wichtig als Gesellschaft nicht nur Rechte, sondern eben auch Pflichten wahrzunehmen.
Aus der Sicht caritativer Träger berichteten Andrea Asshauer (Josefsheim Olsberg) und Patrick Wilk (Vorstand Caritasverband Paderborn) von ihren Erfahrungen. "Ein grundständiges Problem ist die fehlende Attraktivität in den Pflege- und Betreuungsberufen", so Asshauer. Die Arbeitsbedingungen in den pflegerischen Berufen seien für junge Menschen unattraktiv und durch das eigene Erleben im Freiwilligendienst für viele eher abschreckend. Nur wenn die Möglichkeiten für soziales Engagement bunt, vielfältig und frei wählbar seien, seien sie auch attraktiv.
Die oft beschriebenen "Klebeeffekte" junger Menschen, die durch ein FSJ oder den BFD im sozialen Bereich verblieben, beschreibt Patrick Wilk als lediglich "kolateralen Nutzen". Wenn keine Bereitschaft in einer Gesellschaft für mehr Solidarität da sei, dann würden einige Leute weiter klarkommen, aber einige eben auch gar nicht mehr. Deswegen plädiere er für einen Pflichtdienst, der in seiner Ausgestaltung aber finanziell fair, gesellschaftlich akzeptiert und mit klarer Haltung zu generationenübergreifender Solidarität gestaltet werden müsse.
Gegen ein soziales Pflichtjahr positionierten sich in der Diskussion durchweg die Freiwilligendienstleistenden selbst. "Solidarität bedeutet nicht, dass die Jugend für die Gesellschaft aufkommt, sondern die Gemeinschaft", betonte Marie Jolie Gossing, zurzeit als Bundesfreiwillige im Krankenhaus tätig. Eine Pflicht wirke sich demotivierend auf die eigene Haltung aus. "Jeden zu seinem Glück zwingen" ist auch für Jonas Niemczyk (FSJ) ebenfalls keine Option. "Soziales Engagement, das sind für mich schöne Erfahrungen mit einer guten qualitativen Begleitung." Beides sei mit Zwang und mangelnder personeller Ausstattung der Einrichtungen im Pflichtfall nicht möglich. Jarl Zimmermann (FSJ) fordert mehr Information und Werbung bereits in den Schulen und ebenfalls eine bessere personelle Ausstattung in den Einsatzstellen.