Ich lese mich auf stilleschenken.com ein: Es geht darum, sich pro Tag 10 Minuten Stille zu nehmen und sich dabei zu fragen, wofür man dankbar ist und was man Anderen Gutes wünscht. Klingt wie Beten, nur ohne Gott, denke ich. Oder eine weitere Variante der zahllosen Meditations-, Atems- und Achtsamkeitsübungen, die man so kennt. Wo liegt der Unterschied?
„Wir glauben, wir müssen tun, tun, tun, um als Mensch wahrgenommen zu werden. Aber das stimmt nicht.“
Ali Mahlodji über stilleschenken.com
Preisgekrönter internationaler Unternehmer, EU-Jugendbotschafter
Die Idee kommt aus Österreich und ist ein Projekt der Wiener Akademie für Dialog und Evangelisation; Mit-Initiator ist Theologe und Autor („Mission Possible“) Otto Neubauer.
Im Video erklärt er: „Wir können etwas gegen die Ohnmacht tun, gegen die vielen Krisen, die uns bedrängen. Ich kann am Tag 10 Minuten innehalten, und das verändert den Tag. Ich kann dankbar sein, und das mobilisiert die Hoffnungskräfte. Und ich kann Anderen, die es schwer haben, etwas Gutes wünschen. Ob ich nun gläubig bin oder nicht – ich kann etwas beitragen.“
Okay – das klingt viel weniger nach Meditation und viel mehr nach gesellschaftlicher Verantwortung, als ich dachte.
An 10 Minuten pro Tag die eigenen Privilegien checken und durch mehr Reflektion empathischer werden: Wenn das jeder machen würde, sähe die Welt sicher besser aus. Aber so niedrigschwellig das Mitmachen scheint, umso mehr Disziplin brauche ich, um durchzuhalten, denke ich.
Ich greife zu oft automatisch zum Handy; lasse mich auf Instagram berieseln, wenn ich keinen Bock hab, meinen eigenen Gedanken Raum zu geben. Und andere Routinen, die ich gern aufbauen will, floppen: Nach zwei Wochen täglichem Joggen skippe ich ein Training und bin für einen Monat schon wieder komplett raus. Wie ist das dann mit 10 Minuten Stille, wo ich keinen eindeutigen Outcome sehe oder Erfolge nachprüfen kann?
Ich bereite mich für meine erste Runde Stille vor und finde mich albern dabei, dass ich daraus so ein großes Ding mache. Chill mal, du sollst nur 10 Minuten nichts machen. Mütze, Decke und Tee nehmen und raus in den Sommer, der keiner ist. Ein Selfie zu Dokumentationszwecken, Flugmodus an und Timer auf 10 Minuten. Go.
Ich lasse die vergangenen Tage als Schnappschüsse vorbeiziehen. Ich habe bei einem bunten Fest in Warburg Märchen vorgelesen. Das hat gut geklappt und ich bin dankbar, dass ich diese Möglichkeit hatte. Und was wünsche ich Anderen…?
Meine Gedanken schweifen ab und ich fühle mich komisch dabei, mitten am Tag im Garten zu chillen. Soll bloß keiner denken, ich wäre faul. Was wahrscheinlich auch niemand tut, aber sag das mal jemand meiner inneren Kritikerin, bitte.
Der Wecker klingelt. Fazit für heute: Innere Ruhe ist noch ausbaufähig. Und irgendwas stockt in mir, wenn es um konkrete Wünsche für Andere geht. Mal sehen, wie es weitergeht.
Direkt der Spoiler: Es hat nicht jeden Tag geklappt mit der Stille. Aber wenn plötzlich 10 Minuten Leerlauf vor mir lagen – beim Fahrradfahren, beim Warten am Bahnhof – bin ich in die Sicht nach innen gegangen, statt zum Handy zu greifen. Wie geht’s mir gerade? Kann ich den Stress loslassen und mich besinnen? Umschalten auf „dankbar sein“? Das hat erstaunlich gut geklappt.
Der Part mit dem „Anderen was Gutes wünschen“ ist mir nicht so zugänglich. Vielleicht, weil sich schon immer etwas bei den Worten „Ich habe für dich gebetet“ in mir gesträubt hat. Das kam mir meist übergriffig und mehr wie ein Ego-Move des Gegenübers vor. Kann ich mir anmaßen, zu wissen, was für den Anderen das Beste ist und das dann auch noch als Bitte (an Gott) formulieren…? Was für mich besser funktioniert: mir über Ungerechtigkeiten bewusst zu werden. Situationen zu reflektieren, in denen ich gern mutiger gewesen wäre. Ideen sammeln, wie ich mich in Zukunft verhalten will.
Ich glaube, die Stille wirkt nicht nur in den 10 Minuten, sondern vor allem in den restlichen 1.430 Minuten des Tages. Ich merke immer mehr, wie das Auf-Pause-Drücken dafür sorgt, dass ein Bereich in mir wacher ist als vorher.
Ich bin mir darüber bewusst geworden, dass ich mich manchmal im Small-Talk über Politik aus Konfliktscheu eher bedeckt halte. Dass ich in der Öffentlichkeit keine „Szene“ machen will. Dass ich die Frau aus dem Nachbarort bewundere, die mir erzählt, dass sie sich trotz zerstochener Reifen weiterhin in der Flüchtlingshilfe engagiert hat. Dass ich mich frage, wo ich mich stärker engagieren, wo noch deutlicher positionieren sollte – und, ob ich auch mit so krassen Drohgesten wie zerstochenen Reifen umgehen könnte.
Ich will kein Feigling sein. Ich will nicht mehr schweigen, wenn ich genau weiß, dass dies der Moment zum Widerspruch ist. Ich will unbequem werden, wenn es sein muss. Ich will lernen, wie ich aus der Sprachlosigkeit herauskomme, wenn ich von populistischen Aussagen überrollt werde. Ich habe schon länger überlegt, mich darin ausbilden zu lassen – vielleicht bringen mich die 10 Minuten Stille dazu, diesen Schritt zu gehen.
Ihr wollt euch oder anderen auch 10 Minuten Stille schenken?
www.stilleschenken.com
Wenn ihr euch antirassistisch engagieren wollt, geht das z.B. hier:
www.aufstehen-gegen-rassismus.de