Straßenexerzitien in Dortmund
Donnerstag, der 8. Mai 2013. Es ist Christ Himmelfahrt. Für Viele ein Tag, um auszuschlafen und sich später mit Freunden ein paar schönen Stunden zu machen. Für fünf junge Frauen und Männer aus Dortmund, Paderborn und Düsseldorf ist das nicht so. Als ihr Wecker um 7.30 Uhr schellt, werden sie auf einer dünnen Isomatte im Pfarrheim St. Josef im Dortmunder Norden wach. Statt „Himmel-fahrt“ heißt ihr Programm für heute, ganz unten anzukommen.
Ganz unten bei denen, die hier im Brennpunkt der Stadt auf den Straßen leben: bei den Obdachlosen, Strichern, Prostituierten, Drogen- und Alkoholabhängigen. Sie haben sich angemeldet zu den Exerzitien auf der Straße, die von der Abteilung Jugendpastoral/Jugendarbeit angeboten werden. Die Leitung der Tage übernimmt Pater Christian Herwartz aus Berlin, der Gründer der Straßenexerzitien, die ihre Wurzeln in Berlin-Kreuzberg haben. Der 70-Jährige, mit Rauschebart, leuchtenden blauen Augen und auffälligen Tattoos, strahlt eine Ruhe und Lebendigkeit aus, die ansteckend ist. Er lädt die Teilnehmenden ein, an diesem ersten Tag absichtslos durch die Straßen der Stadt zu gehen, mit offenen Augen und offenem Herzen. Dabei sollen sie der Spur der eigenen ursprünglichen und intensiven Gefühle folgen. „Sei aufmerksam für die Momente, in denen du traurig, wütend oder ängstlich wirst und schieb diese Emotionen nicht gleich wieder zur Seite“, ermutigt Herwartz. „Deine Emotionen helfen dir auf die Spur deiner dahinter verborgenen Sehnsucht zu kommen. Diese ist Gottes Geschenk an dich. Er hat sie in dich hinein gelegt. Deine Sehnsucht ist dein Beitrag für diese Welt.“
Sieben Stunden auf der Straße stehen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern heute bevor. Sieben Stunden der Konfrontation mit sich selbst und den Straßen der Stadt. Sieben Stunden allein unterwegs, ohne Proviant, ohne dick gefülltes Portemonnaie, ohne Stadtplan. Für alle eine Herausforderung.
Als die Teilnehmer am späten Nachmittag nach und nach wieder ins Pfarrheim zurückkehren ist die Stimmung ungewöhnlich ruhig. Kein großes „Hallo!“. Kein munteres Plappern über die Erfahrungen des Tages. Eher eine gesammelte zentrierte Atmosphäre. Am Tisch im Gruppenraum wird im gemeinsam gefeierten Gottesdienst zunächst der Tag vor Gott gesammelt, dann folgt ein schlichtes Abendessen. Und um 19 Uhr startet die Gruppe in den gemeinsamen Austausch über den Tag. Nach und nach wird im Raum lebendig, was den Einzelnen heute auf seinem Weg beschäftigt hat: Orte, Begegnungen, Emotionen.
Verena berichtet von ihren anfänglichen Schwierigkeiten, mit so viel unstrukturierter freier Zeit umzugehen. „Ich habe mich fast erschlagen gefühlt von so vielen Stunden ohne Planung.“ Um diesem Gefühl aus dem Weg zu gehen, hat Evelin sich in die U-Bahn gesetzt und ist von einem Ende der Stadt zum anderen gefahren. Dort stand sie dann vor verschlossenen Kirchen. Ohne zu wissen warum, führte ihr Weg sie schließlich in den Phönix-Park und zu einer (Gottes-)Begegnung, die ihr lange in Erinnerung bleiben wird. Christian ist bewegt von der Erfahrung, inmitten so vieler Menschen zutiefst isoliert zu sein, und für Diana wurde der Blick auf ein Werbeplakat zum zentralen Augenblick des Tages.
So berichtet jede und jeder von seinem ganz eigenen äußeren und inneren Weg. Mehr als zweieinhalb Stunden dauert der Austausch in der kleinen Gruppe. Dabei wird gelacht, geweint, gefragt, geteilt, geschwiegen.
Es ist schon weit nach 23 Uhr als alle wieder in die Schlafsäcke kriechen. Drei weitere Exerzitientage stehen noch aus. Drei Tage, um im Brennpunkt der Stadt Gott und den Menschen zu begegnen und dabei das zu erfahren, was Mose am brennenden Dornbusch erlebte: „Zieh deine Schuhe aus! Der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden…“