Die Geheimnisse hinter Tattoos
Ich und mein Körper. Um etwas über mich auszusagen, um an etwas erinnert zu werden, um schön zu sein – dafür lassen sich Menschen Tattoos stechen. Tattoos haben auch im Christentum eine lange Tradition. Paul-Henri Campbell, Autor und Theologe, hat sich mit den Geschichten hinter den Tattoos beschäftigt und YOUPAX einige Geheimnisse verraten.
Herr Campbell, was fasziniert Sie so an Tattoos, dass Sie dieses Interesse zu Ihrem Forschungsthema gemacht haben?
Der Körper ist im 21. Jahrhundert vielleicht der letzte Ort, an dem wir alle eine gemeinsame Erfahrung machen können. Die diätische, sportliche Regulierung des Körpers, seine Gestaltung durch Make-up und Tattoos ist überall präsent. Plastische Chirurgie und die Verwandlung der Körper durch Masken oder Kostüme, die Kultur des Selfies, das sind doch so vehemente leibliche Ausdrucksweisen. Mit Tattoos kann ich zeigen, wie ich drauf bin, wer ich bin. Tattoos sind eine Stellungnahme zu sich selbst und zur Umwelt.
Warum lässt sich jemand tätowieren? Weil sie oder er etwas an sich zum Ausdruck bringen will. Weil jemand seinen Körper zelebrieren möchte. Tattoos sind Gesten der Selbstauslegung, ich stelle damit Momente aus meiner eigenen Biografie dar. Ich hatte zum Beispiel ein Gespräch mit einem Mann, der einen Unfall hatte. Auf die Stelle mit der bleibenden Narbe hat er sich einen Autoreifen tätowieren lassen, als Zeichen und Erinnerung an diesen Unfall. Für ihn war das auch ein Moment des Dankes und des Innehaltens, das er überlebt hat.
Sie sehen Tattoos als bewusste Entscheidungen?
Ja, absolut. Das Tattoostechen ist fast wie eine rituelle Handlung, ein Offizium. Tattoos sind bleibend: Sie sagen „immer.“ Ich weiß nicht, ob eine Tätowierung wirklich „immer“ etwas bedeutet, aber meistens kennzeichnen sie jemanden, wenn es da auch Einschränkungen geben mag.
Kann ich daraus schließen, dass jemand, der sich für ein Tattoo mit einem religiösen Motiv entscheidet, immer einen religiösen Zugang dazu hat?
Ja und nein. Was bedeutet schon das Wort „immer“? Die Antworten, warum man sich ein religiöses Motiv stechen lässt, sind vielfältig. Es kann auch einfach eine Erinnerung an die eigene Oma sein. Ich muss kein Sonntagskirchgänger sein, um ein solches Tattoo zu tragen.
Tattoos drücken aber in gewisser Weise eine Zustimmung aus. Ich und mein Körper – das ist eine Mitteilung an die Welt, eine Feier des Körpers. Von dieser Sichtweise können vielleicht auch wir Christen etwas lernen, wenn wir sagen, hier gibt es eine Kultur, die Respekt, die ein Staunen über den Körper zelebriert.
Gibt es Motive, die besonders beliebt sind?
Rosenkränze sind sehr beliebt, Kreuze in jeder Form, Madonnen, Christusdarstellungen. An Wallfahrtsorten gibt es besondere Tattoomotive: Das Jerusalemkreuz, den Himmelfahrtschristus in der Mandorla, die Jakobsmuschel in Santiago de Compostela. Es hat eine lange Tradition, sich an Wallfahrtsorten als Erinnerung tätowieren zu lassen. In Jerusalem gibt es seit mindestens 1000 Jahren Pilgertätowierungen. Gut belegt ist, dass es in Loreto bis in die 1920er Jahre Jesuiten gab, die Pilger tätowiert haben.
Was zeichnet diese Motive aus?
Viele sind pathetisch, maximalistisch, das heißt übertrieben, oder, aus der Sicht eines etwas verwöhnten Theologen, auch reaktionär in der Bildsprache. Ich sage das ganz ohne Wertung, aber es fällt auf, dass viele Kreuze barocke oder romanische Elemente tragen. Tätowierungen sind Imaginationen, die überall sind und die „da“ sind. Wer sie vorschnell und geringschätzig abtut, tut sich damit keinen Gefallen.
Ich kenne das Klischee, dass Menschen mit Tattoos ein dunkles Geheimnis in sich tragen, eine anrüchige Geschichte. Woher kommt dieses Vorurteil?
Wer hat schon keine anrüchige Geschichte? Aber: Das Vorurteil kommt unter anderem aus dem Kulturprotestantismus. Ich meine das nicht konfessionell konfrontativ. Es geht um die Vorstellung einer Reinheit des Körpers, eine gewisse bürgerliche Distanz zu sich selbst.
Die Meinung, dass Tattoos eine Milieusache sind, hängt vom Ursprung ihrer ersten offiziellen Erfassung ab. Die ersten Tattooarchive sind in der Kriminalforensik entstanden, denn Tattoos sind Alleinstellungsmerkmale. Auch in Inquisitionsakten werden Tattoos erwähnt, in der Fremdenlegion in Frankreich und in Irrenhäusern. Überall dort, wo man Zugriff auf den Körper hatte, sind die ersten großen Archive über Tätowierungen entstanden. Daher kommen die negativen Klischees über Tattoos.
Gleichzeitig wissen wir, dass früher schon berühmte Persönlichkeiten und gekrönte Häupter Tätowierungen trugen. Tätowierungen sind in jeder Zeit und in allen Schichten präsent. Aber die Wahrnehmung von Tattoos verschiebt sich im Laufe der Zeit immer wieder.
Seit wann gibt es christliche Tätowierungen? Der Fisch ist ja das bekannteste und wohl früheste Motiv der jungen Christenheit.
Richtig. Die Tätowierung ist die Mutter der sakralen Kunst. Überall dort, wo man Einritzungen in Sarkophagen, etwa von Fischen, finden kann, überall dort können wir davon ausgehen, dass auch Menschen tätowiert worden sind. Das ist schwer zu belegen, aber wahrscheinlich. Zum Beispiel ist die gesamte koptische Christenheit in Ägypten tätowiert. Das Tattoo dient als Erkennungszeichen, da diese Gruppe oft in der Diaspora gelebt hat. Ihr Erkennungszeichen ist unter anderem ein kleines Kreuz an der Handwurzel.
Warum hat denn das Christentum eine so lange Tradition des Tätowierens?
Zum einen ist das Christentum eine starke Bilderreligion. Hier ist der offensive Umgang mit dem Bild typisch. Zum anderen liegt das an unserer säkularen Gesellschaft. Viele haben heute das Gefühl, dass sie sich die religiösen Symbole individuell aneignen dürfen.
Hält der Trend an, dass sich Menschen in unserer immer säkularer werdenden Welt für ein Tattoo mit einem religiösen Motiv entscheiden?
Mittlerweile würde ich sagen, dass dieser Trend anhält. Unsere visuelle Welt schärft uns immer mehr das Bewusstsein für unsere Körper ein im Schönheits- oder Fitnesskult, die durch die digitalen Medien befeuert werden. Und in einer Zeit, in der es keine festen Leitbilder gibt, steigt der Wert der eigenen Selbstauslegung. Ich denke, die Tätowierung ist eine ästhetische Frömmigkeitsbewegung.
Wir sehen aber auch, dass diese Überinszenierung des Körpers in Extreme kippen kann, die ungesund für den Körper sind. Ist das nicht ein riesiges unauflösbares Spannungsfeld?
Genau. Das sind die zwei Poole zwischen denen wir uns bewegen, der Reinheitskult des Körpers gegen den Kult, den Körper zu zelebrieren als Schauobjekt, als Selbstinszenierung. Was diese Überinszenierung betrifft, sollte man aber bedenken, dass sie auch in anderen Frömmigkeitsformen vorkommen kann. Beides sagt etwas über unseren Körper und unsere persönliche Wahrnehmung des Körpers aus. Das ist vor allem für viele junge Menschen sehr wichtig. Deshalb hält der Trend zum Tattoo an. Letztlich gibt es so viele unterschiedliche Körper, die alle im und mit dem Tattoo gefeiert werden können.
Ein absoluter Lesetipp: Paul-Henri Campbell: Tattoo & Religion. Die bunten Kathedralen des Selbst. Das Wunderhorn, Heidelberg 2019.