Wie die Analyse meiner Handschrift zu einem Gespräch über Selbstverwirklichung wurde
An sich bin ich ein skeptischer Typ. Horoskope? Ohne mich. Dass der Mond beeinflusst, wie gut man schläft? Glaube ich nicht. Dass meine Handschrift tiefere Schlüsse über meine Persönlichkeit verrät? Kann ich mir nicht vorstellen – bis ich Dr. Antja Telgenbüscher getroffen habe. Sie ist Graphologin, untersucht die Handschrift und zieht daraus Schlüsse über die Persönlichkeit. Es entwickelte sich ein Gespräch, das durchaus in meine aktuelle Seelenlage blicken ließ und an dessen Ende Telgenbüscher sagte: „Das ist überhaupt die Kunst, im Leben die richtigen Weichen zu stellen. Die richtige Wahl zu treffen.“
Ich treffe Telgenbüscher in ihrem Büro in Paderborn-Stadtheide, einer ruhigen Wohngegend. Telgenbüschers Nachbar hält Hühner, die fast bis auf den Bürgersteig laufen können. Aus ihrem Büro blickt die 75-Jährige auf die Straße, die Richtung Innenstadt führt. Sie kann die Menschen, die vorbeigehen, gut beobachten. Telgenbüscher vergleicht die Handschrift mit der Körperhaltung, mit der Menschen auf der Straße gehen. Gebückt, aufgerichtet, forsch? Sie sagt: „Handschrift ist Körpersprache“.
»Handschrift sagt etwas über Persönlichkeit aus, weil sie vom Gehirn gesteuert wird. Es gibt aber keine Merkmale, die per se negativ oder positiv sind. Ein introvertierter Mensch ist nicht mehr wert als ein extrovertierter.«
Dr. Antje Telgenbüscher
Graphologin
Die Graphologin schiebt mir ein weißes DIN A4-Blatt und einen Bleistift rüber. Ich schreibe: „Ich treffe mich mit Ihnen für einen Artikel für YOUPAX – das junge Glaubensportal im Erzbistum Paderborn“ und setze darunter meine Unterschrift. Ich schiebe den Zettel wieder zu ihr rüber und denke: „Was jetzt wohl kommt?“
Als erstes fällt ihr meine Unterschrift auf. Die weiche stark von meiner normalen Schrift ab. „Grundsätzlich bedeutet das, dass ich mich in gewisser Weise darstellen will“, sagt Telgenbüscher. „Da ist ein bisschen Show dabei.“ Sie deutet das als Zeichen der Unsicherheit. „Das können Sie sich leisten, weil sie jung sind“, sagt sie. „Da ist man auf der Suche: Wer bin ich?“.
Bevor es weitergeht, erklärt Telgenbüscher kurz: „Handschrift sagt etwas über Persönlichkeit aus, weil sie vom Gehirn gesteuert wird.“ Und: „Es gibt aber keine Merkmale, die per se negativ oder positiv sind. Ein introvertierter Mensch ist nicht mehr wert als ein extrovertierter.“
Dann sucht sie nach Merkmalen in meiner Handschrift, die von der Norm abweichen. Als erstes entdeckt sie, dass viele Buchstaben nach links geneigt sind, also die Schrift eher nach links zeigt, statt schulbuchmäßig nach rechts. Sie erklärt: „Das wird gedeutet als eine Wendung auf sich selbst. Wenn ich schreibe, geht die Hand von mir weg, ich wende mich der Zukunft und den anderen zu: voranstrebend. Bei der Linksbewegung geht es auf mich selbst zu - ich bin ein Mensch, der oft zurückschaut in die Vergangenheit. Und es heißt, dass ich eher introvertiert als extrovertiert bin.“
»Wenn man meine Familie, Freunde vom Dorf und Mitspieler beim Fußball fragen würde, wäre „introvertiert“ sicher kein Attribut, das sie mir zuschreiben würden.«
Antje Telgenbüscher fügt hinzu, dass die Linkslage in der Schrift bei jungen Menschen wie mir ein Zeichen für die Suche nach Individualität sein kann. Sie sagt: „Ich stelle mir einen jungen Menschen vor, der sagt: ‚Ich will nicht mehr bei Mama wohnen. Jetzt mache ich etwas Eigenes.‘“ Ein Volltreffer. Seit acht Monaten wohne ich wieder zuhause, bei Mama und Papa. Seit Wochen spüre ich, dass es bald an der Zeit ist, wieder auszuziehen.Weiter geht’s. Telgenbüscher analysiert, wie die Buchstaben miteinander verbunden sind, wie weit die Buchstaben m, n und u geöffnet sind, und wie ausgeprägt die Ober- und Unterlängen der Buchstaben sind. Dann schaut sie auf die Wortanfänge. „Eher unauffällig“, sagt sie. „Ein Zeichen der Bescheidenheit.“ Dann bemerkt sie, dass die Buchstaben am Ende des Wortes oft ohne Bögen abschließen. Telgenbüscher schließt daraus: „Das ist weit verbreitet, aber ich sehe, dass das mit der leichten Linkslage korrespondiert: Ein Zurückhalten von der Umwelt, sich ein bisschen distanzieren. Das ist in ihrem Alter nichts Besonderes: Da muss man schauen: Wer bin ich eigentlich, was will ich und was kann ich? Da sind alle Entscheidungen noch zu machen im Leben.“
Spannend. Seit August 2019 arbeite ich nun fest als Redakteur für YOUPAX. An sich scheint alles in trockenen Tüchern. Die Probezeit ist rum, der Vertrag unbefristet, ich wohne in der Heimat, habe Freundin, Freunde und meinen Fußballverein dort. Und doch frage ich mich manchmal: Ist das jetzt der richtige Weg für mich? Soll ich dauerhaft in meiner Heimat, eine Stunde von der Arbeit entfernt, wohnen bleiben? Ich vergleiche mein Leben und die Arbeit heute oft mit meinen Stationen in Dortmund, Kassel, Hamburg und Bonn. Ich sehe viele Vorteile darin, wie es jetzt ist, und vermisse gleichzeitig das Gefühl, etwas Neues zu entdecken, auf eigenen Beinen zu stehen und eine gewisse Unbekümmertheit, die ich vorher hatte.
Wie ein Tagebuch helfen kann
Das gute, alte Tagebuch. Graphologin Antje Telgenbüscher empfiehlt, auch in der heutigen Zeit ein handschriftliches Tagebuch zu führen. „Es ist ein Weg zur Selbsterkenntnis“, sagt sie. Denn wer sich alte Tagebucheinträge durchliest und dabei auf die Schrift achtet, kann viele Schlüsse über die Gefühlslage ziehen. Zum Beispiel: Lassen sich in der Schrift bestimmte Emotionen in Verbindung mit einem Thema oder einer Person erkennen?
Während meine Gedanken kreisen, fällt Telgenbüscher noch etwas auf: Beim Wort „treffe“ habe ich die Unterlängen der zwei f`s weggelassen. Die Graphologin sagt: „Das sieht aus wie ‚trelle‘. Es ist also eine Tendenz, die Unterlängen wegzulassen. Da ist mehr Introversion als Extroversion.“
Interessant. Wenn man meine Familie, Freunde vom Dorf und Mitspieler beim Fußball fragen würde, wäre „introvertiert“ sicher kein Attribut, das sie mir zuschreiben würden. Ich bin eher der, der große Klappe hat und fast alles mit einem dummen Spruch kommentiert. Gleichzeitig erinnere ich mich, wie in mich gekehrt ich war, als ich in der Jugend in einer Fußballmannschaft mit hauptsächlich Fremden gespielt habe. Oder wie wenig Lust ich darauf habe, fremde Menschen in der Bahn oder auf Geburtstagen anzusprechen. Mir wird klar: Ich brauche mein Umfeld, um aus mir herauszukommen, um der Entertainer zu sein. Mit dem nächsten Gedanken frage ich mich: Ist das dann nur Show? Bin ich das wirklich? Kompensiere ich mit den extrovertierten Momenten etwas?
Deshalb frage ich Telgenbüscher: Wie sehr hängt meine Persönlichkeit von dem Umfeld ab, in dem ich mich bewege? Wie und wo bin ich ich? Beispielhaft erzähle ich von der O-Woche an der Uni. Die meisten Studierenden kennen einander nicht, checken ab, mit wem sie gut klarkommen könnten und präsentieren sich in gewisser Weise. Ich sage: „Da fragt man sich schon: Wie verhalte ich mich, wie sehr bin ich ich selbst?“. Telgenbüscher antwortet: „Das ist eine Grundfrage. Viele Menschen wollen stark etwas sein, was sie gar nicht sind. Sie schreiben dann auch ganz anders als vermutet und es kommt raus: Du spielst der Umwelt etwas vor.“
Als sich ihre Antwort in meinem Kopf setzt, kommt mir die Frage: „Und wieviel von meiner Persönlichkeit ist in mich hineingelegt und wie viel hängt von Freunden, Familie, Erziehung ab?“. Bei ihrer Antwort bezieht sich Telgenbüscher auf den Schweizer Philosophen und Psychologen Carl Gustav Jung. Sie sagt: „Er ging davon aus, dass wir in unsrem Typus durch Vererbung, die Gene, geprägt sind. Dass ich eher mit dem Verstand oder mit dem Gefühl auf das Leben reagiere, steckt von Anfang an drin.“ Sie habe vier Kinder, ergänzt Telgenbüscher, die ihr Mann und Sie gleich erzogen hätten. Alle vier seien grundverschieden.
„Wir haben die Chance, aus dieser Veranlagung etwas zu machen“, sagt Telgenbüscher. Aus Glaubensperspektive würde ich ergänzen: daraus, was Gott an Talenten in jeden einzelnen hineingelegt hat. Das Gespräch, das damit begann, wie groß die Buchstaben und wie elegant die Wortverbindungen meiner Handschrift sind, hat einen philosophischen Schliff bekommen. „Ich kann nicht nach dem streben, was nicht in mir angelegt ist“, sagt Telgenbüscher. Und: „Ich muss schon an den richtigen Ort kommen. Das ist überhaupt die Kunst, die richtigen Weichen zu stellen.“