Jule Wilberg und Klausdieter Herb
19.12.2023
MITEINANDER

Klimagerechtigkeit: Wenn sich alle entwickeln könnten

Jule Wilberg und Klausdieter Herb diskutieren über die Frage: Wo fängt Gerechtigkeit an, bei der Bewahrung der Schöpfung?

von Tobias Schulte

Jule Wilberg ist 23 Jahre alt. Sie hat einen Traum, der auch wegen des Klimawandels vielleicht nie Realität werden könnte: ein eigenes Haus, möglichst freistehend mit Garten zu haben. 

„Dieser Traum wird meiner Generation von unseren Großeltern und Eltern vorgelebt“, sagt die Studentin aus Unna. „Aber wir haben schon viel zu viele Flächen versiegelt. Und es gibt nicht genug Wohnraum, dass jede Familie in einem eigenen Haus leben kann.

Zwei Generationen leben etwas vor, was für junge Menschen nicht mehr realistisch oder mit dem eigenen Gewissen zu vereinbaren ist. Ist das ungerecht? Und: Wo fängt Gerechtigkeit an, bei der Bewahrung der Schöpfung?

Über diese Frage sprechen wir nicht nur mit Jule Wilberg, sondern auch mit Klausdieter Herb. Der 65-Jährige kann Jule verstehen. Weil er sich auch für die Bewahrung der Schöpfung einsetzt – und sich selbst den Traum vom Eigenheim erfüllt hat. 

Er hatte damals im Garten seiner Schwiegereltern gebaut. „Heute würde ich das vielleicht anders machen“, sagt er. Und wie? Die schnelle Antwort: „Zum Beispiel in ein Mehrgenerationenprojekt ziehen“.

Jule Wilberg

Gerechtigkeit fängt mit Wissen an

Jule Wilberg und Klausdieter Herb kennen sich vom Sehen. Sie ist 23, lebt in Unna und studiert Erziehungswissenschaften in Dortmund. Herb ist Deutsch- und Religionslehrer, zurzeit im Sabbatjahr vor seinem Ruhestand, lebt in Unna-Massen und ist aktiv in der Pfarrei St. Katharina.

Jule Wilberg im Gespräch mit Klausdieter Herb

Beide engagieren sich im Klimabündnis Unna. Sie können stundenlang über die Herausforderungen der Bewahrung der Schöpfung diskutieren. 

Über Kippunkte und den Jetstream. Über Flut und Hitze. Über Gebiete, die unbewohnbar sein werden und Millionen von Menschen, die aus ihnen fliehen werden. Über Biodiversität und die Idee, für die heimischen Tiere einen grünen Gürtel in Unna aufzubauen. Über Fleischkonsum und Fischfang-Rechte. Über ein Leben ohne eigenes Auto, Bahnfahren mit Verspätung und mit dem Rad in den Urlaub nach Schweden zu fahren.

Sie zeigen: Wer die Ursachen und Folgen des Klimawandels nicht kennt, kann sie auch nicht als ungerecht empfinden. Gerechtigkeit fängt mit Wissen an. Und mit Menschen, die sich zusammentun.

Was ist denn Lebensqualität?

Zurück zu Jule Wilbergs Wunsch vom Eigenheim. Sie spürt schon einen gewissen Frust, dass dieser Traum, der ihr vorgelebt wurde, nicht mehr realistisch erscheint. Gleichzeit weiß sie, wie privilegiert sie in Deutschland im Vergleich zu Menschen in vielen anderen Staaten lebt. 

Sie sagt: „Wir sind ein Land, das den Traum von materiellem Wohlstand seit Jahrzehnten lebt. Wenn wir nun anderen Staaten sagen, dass sie die Umwelt schützen und dafür auf diesen Wohlstand verzichten müssen, dann kann das auch für Gefühle von Ungerechtigkeit sorgen.“

Gerechtigkeit fängt da an, wo sich die Perspektive ändert. 

Deswegen sagt Klausdieter Herb: „Wir müssen Wohlstand anders, neu denken.“ Weniger als System, in dem es um permanentes ressourcenvernichtendes Wachstum, das Erzeugen künstlicher Bedürfnisse und um die Anhäufung materieller Güter geht. Weg von einer Orientierung am „Haben“, hin zum „Sein“. 

Er fragt: „Was ist denn Lebensqualität?“ Und sagt:

Klausdieter Herb

»Die Befriedigung von Grundbedürfnissen, eine Wohnung, Bildung, Gesundheits- und Altersvorsorge, Entwicklungschancen zu haben, sich gesund ernähren zu können, Zeit zu haben für die Familie, für Freunde … mit Menschen einen Kaffee trinken und über Gott und die Welt reden und gemeinsam etwas tun zu können. Das ist Wohlstand - für mich.«

Klausdieter Herb

Jule Wilberg ergänzt: „Für mich wäre es eine riesige Lebensqualität, entspannt in der Bahn zu sitzen und zu wissen, dass ich pünktlich ankomme. Oder meinetwegen in einem Mehrfamilienhaus zu leben, in dem es aber ruhig ist. Mit Arbeitszimmer und einem großen Balkon, auf dem ich Gemüse anbauen kann.“

Schöpfungsgerechtigkeit?!

Apropos anbauen. Dieses Stichwort bringt den Religionslehrer Klausdieter Herb zum biblischen Auftrag Gottes an die Menschen, die Erde zu bebauen. Sich um die Schöpfung zu kümmern. „Schöpfungsgerechtigkeit“, sagt er, „heißt, dass ich allen Lebewesen die Möglichkeit gebe, sich zu entwickeln“. Gerechtigkeit bedeutet, die Perspektive des anderen einzunehmen und dass der „Stärkere“ den „Schwächeren“ unterstützt. 

Nur: Wer ist stark und wer schwach? Wenn Jule Wilberg darüber nachdenkt, kommt ihr der nächste Urlaub in den Sinn. Sie möchte nach Rumänien reisen. Mit der Bahn. 

Sie ärgert sich darüber, dass Bahnfahren so viel teurer als Fliegen ist. Und so viel unzuverlässiger. Statt für zwei Stunden für 30 Euro sich in den Flieger zu setzen, wird sie zwei Tage in Zügen unterwegs sein. Und über 100 Euro bezahlen.

Sie sagt: „Manchmal ist es fast unverantwortlich, die Bahn zu nutzen“. Doch sie tut es. Und kann so auch andere Menschen inspirieren. Vielleicht sogar ihren Neffen, der mit 12 Jahren ein totaler Autofan ist. Sie sagt: „Wenn ich mit ihm durch die Stadt laufe, erklärt er mir immer, welches das teuerste Auto ist und welcher Star diesen Wagen fährt. Dann sage ich ihm, was für eine Errungenschaft es für mich ist, kein Auto zu haben. Und dass der ICE eh viel schneller fährt.“

Magazin Gerechtigkeit
Dieser Beitrag erschien zuerst im Magazin "Gerechtigkeit" des Erzbistums Paderborn. Hier geht's zum ganzen Magazin.

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