In diesem Artikel geht es um Missbrauchserfahrungen. Wenn du dich mit dem Thema nicht wohlfühlst, lies den Text nicht weiter oder nicht allein. Unten auf der Seite findest du Hilfsangebote, an die du dich bei Bedarf wenden kannst.
Louise ist 19 Jahre alt und auf der Suche nach Orientierung in ihrem Leben, als sie bei einem Glaubensfestival einen jungen Priester kennenlernt. Ein aufgeschlossener, frommer und begeisternder Mann. Sie trifft sich mit ihm zu Gesprächen und er nimmt sie mit zu einer Gruppe junger Erwachsener, die er leitet. Louise ist begeistert: Endlich kann ihr jemand Antworten auf all ihre Fragen geben. Ihr ganz klar sagen, was sie im Leben machen soll, was Gottes Wille für ihr Leben ist. Seit langem hat sie wieder das Gefühl, dass sie jemand versteht und ihr helfen kann. Ihre Lebensfragen, die so groß und schwierig erschienen, lassen sich nun ganz leicht beantworten. Sie muss einfach nur tiefer vertrauen und ihren Glauben entschiedener leben. Louise hat Gott jetzt gefunden, der für sie immer ein Fragezeichen war. Oder?
Gleichzeitig sprechen ihre Freunde Louise darauf an, dass sie sich immer mehr von ihnen distanziere und fremd werde. Sie sagen ihr, sie würde auf einmal so anders sprechen und man könne sich gar nicht mehr normal mit ihr unterhalten. Als Louise nicht mit zum jährlichen Wanderurlaub kommen will, weil die Gruppe junger Erwachsener ein Glaubenswochenende besucht, kommt es zum Streit. Louise ist innerlich zerrissen: Der Priester hat gesagt, dass das Wochenende ihr Segen bringen wird und sie unbedingt dabei sein muss. Nicht auf seinen Rat zu hören, macht ihr ein schlechtes Gewissen. Schließlich spürt Louise die Kraft Gottes, seit er sie begleitet. Andererseits fühlt sich die Situation komisch an. Wer hat Recht? Was soll sie tun?
Louise ist eine fiktive Person. Aber ihre Erfahrungen sind real. Und: Sie sind kein Einzelfall. Fachleute würden sie als geistlichen Missbrauch bezeichnen – ein Schlagwort, das momentan in der Kirche und den Medien kursiert. Immer mehr Fälle werden öffentlich, zuletzt der Skandal um den slowenischen Jesuitenpater Marko Ivan Rupnik. Er war international bekannt für seine künstlerischen Mosaike unter anderem im Wallfahrtsort Lourdes – und ist es inzwischen auch für sexuellen und geistlichen Missbrauch. Ein anderes Beispiel: Jean Vanier, Gründer einer Lebensgemeinschaft für Menschen mit und ohne geistige Behinderung namens Arche – und ebenfalls mehrfacher Missbrauchstäter. Die Liste von Täterinnen und Tätern wird immer länger.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versuchen, den geistlichen Missbrauch aus verschiedenen Perspektiven zu verstehen, Dynamiken und Strukturprobleme in der Kirche zu erkennen, Menschen für die Problematik zu sensibilisieren. Aber was genau ist geistlicher Missbrauch und vor allem: Warum ist er so gefährlich?
Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir wollen dazu gehören. Wir orientieren uns daran, was andere glauben und tun. Wir suchen nach eindeutigen Antworten auf unsere Fragen. Nach Wegweisung für unser Leben. Wir lassen uns beeinflussen. Mit diesem Bedürfnis sind wir gleichzeitig verletzlich. Wir sind anfällig für Missbrauch. Von Personen, die ihre Autorität und Macht missbrauchen. Passiert das in Religionsgemeinschaften, ist von geistlichem Missbrauch die Rede.
Die Ordensschwester Katharina Kluitmann beschreibt geistlichen Missbrauch als „Sammelbegriff für verschiedene Formen emotionalen und/oder Machtmissbrauchs im Kontext des geistlichen, religiösen Lebens, vor allem in Formen der Begleitung und in Gemeinschaften und Gemeinden.“ Dieses Problem gibt es eigentlich schon immer: Seit Menschen andere bei Glaubens- und Lebensfragen begleiten, scheint es dabei Missbrauch zu geben – also schon seit hunderten von Jahren. Keine Kirche oder Religionsgemeinschaft kann sich von dieser Gefahr freisprechen. Neu ist, dass in der letzten Zeit zunehmend darüber gesprochen wird. Die Sensibilität für dieses Phänomen wächst. Gleichzeitig können kaum Zahlen für geistlichen Missbrauch genannt werden. Weil die Betroffenen häufig gar nicht bemerken, dass sie manipuliert werden. Weil schwer zu sagen ist, wo die Grenze ist.
»Geistlicher Missbrauch ist ein Sammelbegriff für verschiedene Formen emotionalen und/oder Machtmissbrauchs im Kontext des geistlichen, religiösen Lebens, vor allem in Formen der Begleitung und in Gemeinschaften und Gemeinden«
Sr. Katharina Kluitmann OSF
über die Definition von geistlichem Missbrauch
Während psychischer und emotionaler Missbrauch auch in der Familie, am Arbeitsplatz und in der Peergroup passieren kann, hat geistlicher Missbrauch eine Besonderheit: Er geschieht im Namen Gottes in einem geistlichen Kontext. Also z.B. bei Katechesen, bei einem geistlichen Gespräch, bei Glaubenskursen, bei der Beichte. Seelsorgerinnen und Seelsorger, die andere Menschen bei einem gelingenden Leben unterstützen sollen, werden zu Täterinnen und Tätern.
Im Namen Gottes missbrauchen sie mich in meiner Suche nach Orientierung, nach Antworten auf Lebensfragen, nach Unterstützung bei Glaubensthemen. Sie sagen mir, was Gottes Wille für mein Leben ist. Welche Gebetsform die einzig richtige ist. Wie ich meinen Glauben leben muss. Mithilfe kurzer biblischer Texte weisen sie mir den einzigen Weg für mein Leben, der mich zu Gott führen kann. Ich muss ihnen einfach vertrauen und gehorchen. So der Anschein.
Das klingt alles sehr einfach und verlockend, aber: Mit all diesen Handlungen und Ratschlägen verletzen die Täterinnen und Täter das spirituelle Selbstbestimmungsrecht, das jeder Mensch hat. Das Recht, über meine Spiritualität, mein Glaubensleben, meine Lebensform, meine Sinnsuche frei zu entscheiden. Geistlicher Missbrauch verletzt meine Privatsphäre. Ich verliere meinen Schutzraum. Die Täterin oder der Täter dringt in mein Innerstes ein, bis hinein in meine persönliche Gottesbeziehung und stellt sich zwischen Gott und mich. Statt mir wertvolle Hinweise zu geben, wie ich Gott in meinem Leben entdecken kann, erklärt sie oder er mir direkt Gottes Plan für mich.
Geistlichen Missbrauch gibt es nicht nur bei Einzelpersonen, sondern häufig auch in Gemeinschaftsformen, vor allem in Klöstern oder in (neuen) geistlichen Gruppen. So hat beispielsweise im Jahr 2021 der Bischof von Münster eine geistliche Gemeinschaft wegen geistlichen Missbrauchs aufgelöst. Statt zu einem erfüllenden Leben mit Gott zu gelangen, werden Mitglieder in missbräuchlichen Gemeinschaften in die Enge und Isolierung getrieben, unterdrückt und ausgenutzt. Subtile Kontrolle, Druck und Zwang stehen an der Tagesordnung – aber immer mit Verweis darauf, dass Gott dieses Leben so will.
Geistlicher Missbrauch ist überwiegend ein unsichtbarer Prozess, bei dem das Opfer immer mehr emotional vom Täter oder der Täterin abhängig wird. Die Täterperson nutzt ihre Autoritätsposition aus – mit unsichtbaren Strategien und Mitteln. Geistlicher Missbrauch ist immer ein Missbrauch von Macht. Im Gegensatz zu sexuellem Missbrauch mit Körperkontakt kann ich geistlichen Missbrauch aber nicht sehen. Der chilenische Theologe Samuel Fernández macht deutlich: Geistlicher Missbrauch wird nicht durch die Art von Macht definiert, die genutzt wird, um ihn zu begehen. Entscheidend ist der Schaden, den geistlicher Missbrauch im Gewissen der Betroffenen anrichtet. Aus rechtlicher Sicht lässt sich das jedoch kaum fassen.
Und noch eine Sache kommt hinzu: Anders als beim sexuellen Missbrauch passiert nicht jeder geistliche Missbrauch von der Absicht her bösartig und vor allem bewusst. Er geschieht häufig unbewusst. Täterinnen und Täter denken, dass sie nur das Beste für die begleitete Person tun – ein fataler Irrtum, der für die Betroffenen gravierende Konsequenzen haben kann: geistlich, emotional, psychisch, körperlich und sozial. Die Begleitung von Betroffenen zeigt die Bandbreite der Auswirkungen. Sie reicht von negativen Auswirkungen auf die Gottesbeziehung über Gefühle von Scham, Schuld, Ohnmacht, Trauer, Wut und Zorn, ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen und soziale Veränderungen wie Isolation, Rückzug und Vertrauensverlust bis hin zum Suizid.
Wie Louises Glaubens- und Lebensweg weitergehen wird, wissen wir nicht. Vielleicht findet sie eine Person, mit der sie über ihre Situation sprechen kann und die ihr gute Ratschläge gibt. Um ihre Erfahrungen reflektieren und verstehen zu können, gibt es verschiedene Kriterien. Wenn ich diese Kriterien positiv beantworten kann, zeigen sie, dass ich in meinem Glauben auf einem guten Weg bin. Sie sind Anzeichen für gesunde und förderliche Spiritualitätsformen, Gemeinschaften, Beziehungen und Impulse, die mich vor einem geistlichen Missbrauch bewahren können. Im nächsten Artikel werden sechs dieser Kriterien ausführlich erläutert.
Ansprechpersonen:
Bistum Münster: https://www.bistum-muenster.de/startseite_rat_hilfe/geistlicher_missbrauch
Bistum Osnabrück: https://bistum-osnabrueck.de/kontaktdaten-fuer-betroffene-sexueller-oder-spiritueller-gewalt/
Ökumenische Initiative GottesSuche – Glaube nach Gewalterfahrungen: https://www.gottes-suche.de/
Literaturhinweise:
Fernández, Samuel (2021): Towards a Definition of Abuse of Conscience in the Catholic Setting.
Häuselmann, Johannes/Insa, Francisco (2023): Abuso di potere, abuso spirituale e abuso di coscienza. Somiglianze e differenze.
Kluitmann, Katharina (2019): Was ist geistlicher Missbrauch? Grenzen, Formen, Alarmsignale, Hilfen
Wagner, Doris: (2019): Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche.