Das Kleinenberger Friedhofstor
01.11.2018
Heimat

Ein Ort zwischen Himmel und Erde

Den Kleinenberger Friedhof kennt Carolin schon ihr ganzes Leben.

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Von Carolin Schnückel

Während ich die ersten Zeilen dieses Texts tippe, schweift mein Blick immer wieder nach draußen in den grauen Himmel, vor dem sich müde Äste wiegen. Das Grün wandelt sich schon seit Wochen zu gelb und braun, und wenn mit dem einsetzenden Regen auch der Wind kommt, wird die Straße unter einer Blätterdecke verschwinden. Die Natur macht sich bereit für die Kälte, für die Dunkelheit. Zieht sich zurück in ihr Inneres, in die Stämme und Wurzeln, in die Erde. Tag für Tag schwinden die Zeichen des Lebens, bis schließlich nach dem letzten Herbststurm alles kahl, weit und trostlos ist.

Hallo November.

Gestern bin ich mit meiner Mama zum Friedhof nach Kleinenberg gefahren, um das Grab meiner Großeltern winterfest zu machen. Zum Schluss haben wir das rote Grablicht angezündet, das im November von unzähligen Grabstätten im Erzbistum Paderborn leuchtet. Denn heute ist Allerheiligen. Mit diesem Tag beginnt der Monat, der wie kein anderer für das Gedenken an die Verstorbenen steht.

Auf dem Grab von Carolins Großeltern steht das Grablicht in einer Laterne.
Am Fuße des großen Kreuzes brennt auch ein Grablicht.

Alpha und Omega

Den Kleinenberger Friedhof kenne ich schon mein ganzes Leben. Meinen Opa habe ich leider nie persönlich kennengelernt; meine Oma starb, als ich zehn war. Ich bin immer gern mit meiner Mama hierher gefahren. Früher war mein Bruder oft dabei und wir haben in den Ästen der Trauerweide gespielt, die bis auf den Boden hinabhingen. Wenn ich heute zurückdenke, finde ich es schön, dass unsere Mutter uns oft an diesen Ort mitgenommen und uns so früh gezeigt hat, dass der Tod zum Leben gehört. Manchmal haben wir nach dem Blumen pflanzen auf der Friedhofsbank gesessen, ein Teilchen gegessen und Caprisonne getrunken. Dabei konnten wir unsere Fragen loswerden: wie es im Himmel aussieht, ob unsere Oma uns sehen kann, ob es ihr gut geht.

Unzählige Male bin ich durch das schmiedeeiserne Tor mit dem Alpha- und Omega-Zeichen gegangen – früher an Mamas Hand, beim Begräbnis meiner Oma mit tränenverschleierten Augen, in den letzten Jahren oft auf dem Rückweg von der Uni, um an heißen Sommertagen zwei Kannen Wasser über die bunten Blümchen zu gießen.

Jesus am Kreuz - ein Zeichen der Hoffnung.
Die letzte Ruhestätte.

»Dass der sterbende Jesus das Symbol eines wunderbaren Versprechens ist, dass wir uns eben nicht fürchten brauchen vor dem,
was nach dem Leben kommt –
das beginne ich erst jetzt wirklich zu begreifen.«


Als Kind habe ich mich vor dem großen Kreuz unter den Laubbäumen gegruselt, das am oberen Ende des Friedhofs steht. Dass der sterbende Jesus aber eigentlich das Symbol eines wunderbaren Versprechens ist, dass wir uns eben nicht fürchten brauchen vor dem, was nach dem Leben kommt – das beginne ich ehrlich gesagt erst jetzt wirklich zu begreifen. In letzter Zeit habe ich mich viel gefragt, wie es sich wohl anfühlt, im Moment des Todes loslassen zu müssen. Die Kontrolle abzugeben. Diese Vorstellung hat mir Angst gemacht.

Dann erzählte mir eine Freundin, dass sie vor einigen Jahren ein Nahtoderlebnis hatte. Sie sagte, das Gefühl, das sie in diesen Momenten durchströmte, war nichts anderes als der reine Frieden. Als ich gestern das Friedhofskreuz wiedergesehen habe, hat mich dieser Anblick zum ersten Mal nicht erschauern, sondern geborgen fühlen lassen. Und es war schön, vor dem Kreuz die vielen kleinen flackernden Lichter in der Dunkelheit zu sehen, in denen so viel Bedeutung schlummert.

Eine Wahrheit, größer als das Universum

Schon oft hat mich ein Gefühl von Ruhe und Achtsamkeit erfüllt, wenn ich das winzige Stück Natur besuche, an dem meine Großeltern ruhen. Auch, wenn ihre Körper längst nicht mehr hier sind, fühle ich mich ihnen an diesem Ort verbunden. Und mehr noch – wenn ich hier bin, fühlt sich die Welt und das Leben plötzlich anders an. Als würde ich hier einer Wahrheit nahe kommen, die ich auf dieser Erde zwar niemals werde erfassen können, deren bloße Anwesenheit mich aber unendlich ruhig macht.

Denn diese Wahrheit ist größer als ich, größer als unser Planet, größer als das Universum. Diese Wahrheit ist es, die jedes Frühjahr aufs Neue die Dunkelheit des Winters besiegt und die Natur zum Leben erweckt. Denn immer wieder scheint es mir wie ein kleines Wunder, wenn die ersten Schneeglöckchen sich durch den Frost kämpfen. Alpha und Omega. Diese Wahrheit lässt mich darauf vertrauen, dass es auch für unsere lieben Verstorbenen ein Wiedererwachen gibt. Sie verspricht mir, dass am Ende einfach alles gut sein wird.

Denn auch, wenn auf der Erde November ist, wird dann immer Frühling sein.

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