05.06.2023
Perspektive

Buchtipp: Die Mitternachtsbibliothek

Tausende Varianten des eigenen Lebens ausprobieren darum lohnt sich der Bestseller von Matt Haig

von Theresa Oesselke

Stell dir mal vor: Du kommst in eine riesige Bibliothek. Überall sind Regale voller Bücher. Gänge, die scheinbar ins Unendliche gehen. Und all diese Bücher sind Lebensvarianten, die du hättest leben können. Wege, wie dein Leben hätte verlaufen können. Was hättest du im Leben anders gemacht? Welche Entscheidung bereust du? Welches Leben würdest du gern ausprobieren?

Was wäre wenn...?

Diese Chance bekommt Nora Seed im Buch „Die Mitternachtsbibliothek". Sie ist Anfang 30 und lebt in London. Doch sie ist mit ihrem Leben nicht glücklich: Ihre Eltern sind verstorben. Sie verliert ihren Job im Plattenladen, den Kontakt zu ihrer besten Freundin in Australien und zu ihrem Bruder. Als schließlich auch noch ihre Katze stirbt, will Nora nicht mehr leben.

Aber ihr Versuch, das Leben zu beenden, scheitert. Sie landet in einer Zwischenwelt zwischen Leben und Tod: in der Mitternachtsbibliothek. Hier hat Nora die Möglichkeit herauszufinden, was passiert wäre, wenn sie sich in ihrem Leben anders entschieden hätte. Jedes Buch, das sie öffnet, bringt sie in eine andere Lebensvariante ihres Lebensweges. In welcher Variante kann sie glücklich werden?

Das Buch des Bereuens

Dann ist da aber noch dieses Buch des Bereuens. Die Quelle aller Probleme von Nora und auch die Antwort darauf. In diesem Buch steht jedes Gefühl des Bereuens, das Nora seit ihrer Geburt gespürt hat: von alltäglichen Kleinigkeiten wie „Ich bereue, dass ich heute nicht geübt habe“ bis hin zu wesentlichen Dingen wie „Ich bereue, dass ich meinem Vater, bevor er starb, nicht noch gesagt habe, dass ich ihn liebe“. Manche Reuegefühle, die Nora in ihrem Leben ständig begleitet haben, kehren immer wieder. Andere tauchen manchmal auf und verschwinden dann wieder.

Im Buch des Bereuens zu lesen, ist schmerzhaft für Nora. All die Gefühle brechen wieder über sie herein. Aber nach und nach erlöschen die Reuegefühle. Nora überlegt, welche Reuegefühle im Vordergrund stehen. Welche Entscheidung sie am liebsten rückgängig machen würde. Welches Leben sie gerne ausprobieren würde. Sie öffnet verschiedene Bücher und taucht in die unterschiedlichen Versionen ihres eigenen Lebens ein.

Die Lebensträume der anderen

Die nachfolgenden Abschnitte spoilern vielleicht, aber das ist nicht schlimm. Denn im Roman geht es nicht nur um Noras Lebensvarianten, sondern auch um meine als Leserin oder Leser. Indem ich beim Lesen Nora dabei begleite, in die verschiedenen Varianten ihres Lebens einzutauchen, fange ich unweigerlich an, über ihre und vor allem meine Entscheidungen nachzudenken. Wie könnten meine Lebensvarianten aussehen? Was fehlt mir vielleicht? Worauf kommt es in meinem Leben an?

Je mehr Leben Nora ausprobiert, desto deutlicher merkt sie: Diese anderen Leben sind gar nicht ihr eigenes Leben. Sondern: Sie erfüllen nur die Erwartungen anderer. In Wirklichkeit sind sie gar nicht so, wie Nora sie sich vorgestellt hatte:

„Jedes Leben, das sie seit Betreten der Bibliothek ausprobiert hatte, war der Traum eines anderen Menschen gewesen. Das Eheleben im Pub war Dans Traum gewesen. Die Reise nach Australien war Izzys Traum gewesen, und als Nora nicht mitging, tat es ihr eher für ihre beste Freundin leid als für sich selbst. Der Traum, dass Nora Schwimmchampion werden sollte, war der ihres Vaters gewesen. Und es stimmte zwar, dass sie sich als Jugendliche für die Arktis interessiert hatte und Gletscherforscherin werden wollte, aber das war nur durch ihre Gespräche mit Mrs Elm gekommen, damals in der Schulbücherei. Und The Labyrinths, na ja, die waren schon immer der Traum ihres Bruders gewesen.“ (S. 216f.)


Wie hab ich mir mein Leben vorgestellt? Welche Erwartungen meine ich, erfüllen zu müssen?

Potenzial und Liebe

Nora entdeckt, dass sie im Leben eigentlich nur eins braucht: Potenzial. Sie ist zu viel mehr fähig, als sie je gedacht hatte. Auf einmal will Nora gar nicht mehr sterben – auch wenn das Leben oft ein chaotischer Kampf ist. Aber es ist ihr Kampf: „Alles war anders, weil Nora nicht mehr das Gefühl hatte, die Träume anderer Menschen erfüllen zu müssen. Sie fand ihre Erfüllung nicht mehr darin, die perfekte Tochter, Schwester, Partnerin, Ehefrau, Mutter oder Angestellte sein zu wollen, sondern wollte nur noch ein Mensch sein, der um seinen eigenen Lebenssinn kreist, nur noch für sich selbst verantwortlich ist. (S. 315)

Und schließlich spürt Nora auch, was ihr in ihrem Ursprungsleben gefehlt hat: Liebe. Nora hatte niemanden geliebt und niemand hatte sie geliebt. „Man konnte in den vornehmsten Restaurants essen, man konnte jede Art von sinnlicher Lust erfahren, man konnte auf einer Bühne in Sao Paulo vor zwanzigtausend Menschen singen, man konnte in donnerndem Applaus baden, man konnte bis ans Ende der Welt reisen, man konnte im Internet Millionen Follower haben, man konnte Olympiamedaillen gewinnen, aber ohne Liebe war das alles sinnlos.“ (S. 275)

Das eigene Leben leben

Matt Haigs Roman „Die Mitternachtsbibliothek“ ist ein unterhaltsamer und zugleich tiefgehender Roman. Er regt dazu an, über das eigene Leben und die eigenen Entscheidungen nachzudenken. Über die Lebensvarianten, die man gerne ausprobieren würde. Das Buch lädt dazu ein, das eigene Leben mutig zu leben. Ganz wie die Bibliothekarin der Mitternachtsbibliothek Mrs Elm sagt: „Du musst das Leben nicht begreifen. Du musst es nur leben.“

»Du musst das Leben nicht begreifen. Du musst es nur leben.«

Mrs Elm
Bibliothekarin der Mitternachtsbibliothek

Infos zum Buch

Autor: Matt Haig
Titel: Die Mitternachtsbibliothek
Genre: Roman
Preis: 12,99 Euro (Gebundene Ausgabe)
ISBN: 978-3-426-30825-7
Erscheinungsdatum: 03.04.2023
Verlag: Droemer Taschenbuch
Seitenzahl: 320
Mehr Infos: https://www.droemer-knaur.de/buch/matt-haig-die-mitternachtsbibliothek-9783426308257

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