„Christen und Muslime sind einander gar nicht so fremd.“ Davon ist Ali überzeugt.
Ali kommt aus Afghanistan, ist 31 Jahre alt. Seit zwei Jahren wohnt er in Deutschland. Kennengelernt habe ich ihn, weil ich Flüchtlingen ehrenamtlich Deutsch beibringe und jedem der mag, die Grundlagen des Klavierspielens zeige. Ali wollte mehr lernen über die Kultur in Deutschland, die Sprache und die klassische europäische Musik. Oft haben wir uns über muslimische und christliche Glaubensfragen unterhalten, über Gemeinsamkeiten und Differenzen. Viele Wochen habe ich ihn nicht mehr gesehen, doch heute will ich wissen, wie es ihm und seiner Familie geht. Nach den Ausgangsbeschränkungen bin ich die Erste, die ihn besucht und werde herzlich begrüßt.
Als ich in Alis Wohnung trete, fällt mir als erstes ein Holzkreuz an seiner Eingangstür auf. Doch Ali ist Muslim. Er ist geflohen, weil er in seinem Heimatland schikaniert und bedroht wurde. Er wollte nicht mit der Taliban und deren Nachfolgemilizen kooperieren. Deshalb möchte Ali nicht, dass ich seinen richtigen Namen nenne.
So stehe ich überrascht mit Ali an seiner Eingangstür mit dem Holzkreuz auf dem geschrieben steht: Herr segne dieses Haus. Dieser Segensspruch, so erklärt er mir, sei gar nicht fern von seinen Glaubensüberzeugungen. „Im Islam wünschen wir dem Gastgeber Gottes Friede für Haus und Familie“, erklärt Ali. „Das wünschen wir auch all unseren Freunden. Darum finde ich den Spruch schön.“ An diesem Ort verbinden sich plötzlich auf ungeahnte Weise christliche und islamische Segenswünsche.
Auf einer Schreibfläche an der Tür hat Ali handschriftlich Begriffe auf Deutsch und Persisch notiert: „Fantasien, Lösung, diskutieren, Ich bin dagegen, Zusage“. Er möchte sie in dieser Woche lernen. Wie passend! Denn sprechen wollen wir über seine Erfahrungen, die er als Muslim in Deutschland gemacht hat.
„Gute Erfahrungen“, beteuert Ali. „Bisher hatte ich keine Probleme. Oder weniger als in Afghanistan. Ich denke, dass wir uns alle nicht so fremd sind.“
Wie er darauf kommt, möchte ich von ihm wissen, denn in den Medien wird nicht zuletzt immer wieder über Differenzen zwischen christlichen und muslimischen Kulturen und Religionen diskutiert. Die Frage, wie ein friedliches, respektvolles Zusammenleben in Deutschland und Europa möglich ist, scheint noch nicht geklärt zu sein.
Doch Ali ist zuversichtlich.
»Wir glauben alle an einen Gott!«
Er ist der Überzeugung, dass die großen Weltreligionen gar nicht so weit voneinander entfernt sind. „Weißt du, wir glauben alle an einen Gott“, sagt er. „Wir geben ihm verschiedene Namen, aber ER ist derselbe. Ob ich Gott oder Allah sage, der Große oder der Allmächtige, der Gütige oder der Unendliche – es ist Gott.“
Davon ist er vor allem überzeugt, seitdem er in Deutschland viel Kontakt in der Flüchtlingshilfe mit den dort ehrenamtlich arbeitenden Christinnen und Christen hatte. In der Flüchtlingshilfe arbeiten katholische und evangelische Menschen. „Ich war überrascht, dass es zwischen euch Christen Unterschiede gibt. Das wusste ich nicht. Das ist wie bei uns Muslimen. Da gibt es auch Unterschiede. Wir Muslime sind nicht alle gleich. Manche halten ihre Art zu Glauben für besser als die der anderen. Das ist nicht richtig.“
Ali war sogar mit einigen christlichen Freunden in der evangelischen Martin Luther-Kirche und der katholischen St. Pankratius-Kirche in Gütersloh, denn er war neugierig und wollte wissen, wie es darin aussieht und zugeht. „Das Beste was mir und meiner Familie passieren konnte, war, dass wir gläubige Menschen um uns herumhatten, die uns mitgenommen haben und bis heute zeigen, wie das Leben in Deutschland funktioniert.“
Es irritiert Ali, dass es in Deutschland kaum öffentlich religiöses Leben gibt. So könnte man meinen, dass es keine gläubigen Christen gäbe. Denn man sieht sie nicht. „Das ist schade und sehr merkwürdig, wenn man neu in Deutschland ist“, bemerkt Ali. Deshalb schaut er sonntags manchmal zu, wie die Menschen in die Kirche gehen. Eines beunruhigt ihn: „Schade, dass man in Deutschland und Europa manchmal komisch angeschaut wird, wenn man sagt, dass man an Gott glaubt, zu ihm betet und in die Kirche geht. Das ist falsch!“.
Ali hat viel in den zwei Jahren in Deutschland über den Islam und das Christentum nachgedacht.
Er weiß, dass es viele Menschen gibt, die etwa das Judentum, das Christentum und den Islam für unvereinbar miteinander halten. Doch er hat erlebt, dass zuhören und miteinander sprechen der einzig richtige Weg ist, um einander kennenzulernen und besser verstehen zu können. Es gehe nicht darum, so sagt Ali, alle Unterschiede aufzuheben. Aber es gelte den Konflikt zu vermeiden.
Nie würde er etwa die afghanische Gastfreundlichkeit aufgeben wollen, die jeden an den heimatlichen Tisch bitte. Die Bewirtung eines Fremden wie auch eines vertrauten Freundes am eigenen Tisch, ist eine Pflicht, die sowohl die christliche als auch die islamische Glaubenslehre vorgibt, doch ist sie uns Christen in unserer hektischen und getakteten Welt fast abhandengekommen. In vielen muslimischen Haushalten wird sie noch gepflegt. Gesagt getan – und so tischt er zusammen mit seiner Familie mir ein üppiges Festmahl auf, das es an nichts mangeln lässt. „Wer bei uns ohne vollgestopften Bauch und Bauchschmerzen vom Tisch eines Freundes aufsteht, dem hat es nicht geschmeckt“, lacht Ali.
Doch muss Ali zugeben, dass seine offene und tolerante Lebensweise bei anderen Muslimen manchmal auf Ablehnung stößt. „Sie kennen die Deutschen nicht und halten ihre Lebensweise für verkehrt. Manche interessieren sich auch nicht. Dieses Land ist ihnen fremd. Sie wollen nichts Böses, aber sie sollten jeden so leben und glauben lassen wie er mag.“
»Gott ist die Hauptsache!«
Mich beeindruckt, wie offen und reflektiert Ali mit seinen Mitmenschen und seinem Glauben umgeht. Vor allem eines möchte er uns, seinen Mitmenschen, mit auf den Weg geben: „Gott ist die Hauptsache! Der Weg, wie wir zu ihm kommen, mag verschieden sein. Der Weg ist nicht so wichtig! Wichtig ist Gott! Wichtig ist, dass wir an IHN glauben!“.
Was bedeutet das für uns?
Es bedeutet, dass wir uns die Worte zu eigen machen sollten, die Ali gerade an seiner Wohnungstür notiert hat: „Fantasien, Lösung, diskutieren, Ich bin dagegen, Zusage“. Lassen wir uns auf neue Gedanken ein, finden wir im Diskurs Lösungen. Wir sollten gemeinsam einen Standpunkt beziehen und doch immer wieder bereit sein, diesen infrage zu stellen, ohne dabei an den Grundfesten unserer Weltanschauung zu rütteln, die da lauten: Menschenwürde, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, Toleranz, Religionsfreiheit und die Umsetzung christlicher Werte wie Nächstenliebe und die Zehn Gebote.
So sei ein friedvolles Miteinander möglich, da ist sich Ali sicher.