Vorurteile - wir alle haben sie. Aber können wir sie ablegen?
In der Uni und gerade in den Geisteswissenschaften trifft man viele komische Vögel. Vor kurzem kam ich aber in den Hörsaal und habe mich ganz besonders gewundert. Da saß ein Mann um die 60, lange Haare, langer Bart, Brillengläser wie Glasbausteine. Dazu ein zu großes sandfarbenes Jackett mit rund zwei dutzend Stiften in der Brusttasche - und Jogginghose. Seine Schuhe bestanden aus mehr Löchern als für die Schnürsenkel nötig gewesen wären und seine Unterlagen transportierte er in einer ausgeblichenen Plastiktüte. In der nächsten Woche trug er das gleiche Outfit, in der darauffolgenden wieder. Und jede Woche ging der gleiche unangenehme Geruch von ihm aus.
Da fragt man sich doch: Was ist das für einer? Lebt er auf der Straße? Oder: Warum kann er sich nicht die Haare waschen?
Jeder von uns kennt das - man sieht jemanden und beginnt sofort zu spekulieren und zu urteilen. Kurz: Man entwickelt Vorurteile.
Dass es nicht richtig ist, über jemanden zu urteilen, ohne ihn oder sie zu kennen, dürfte jedem klar sein. Aber wie kann man das stoppen? Kann man überhaupt vorurteilsfrei denken?
Bevor wir nach Lösungen suchen, sollten wir erstmal fragen, warum wir Vorurteile haben. Vielleicht gibt es dafür ja eine logische Begründung.
Im Grunde genommen ist ein Vorurteil ein vorläufiges Urteil, das es nach genauerer Betrachtung der Umstände zu überprüfen gilt. Leider ist das im Alltag aber nur selten so.
Im Ursprung hatte die Kategorisierung unseres sozialen Umfeldes aber eine nützliche Funktion: Die Vielzahl an Informationen, die auf uns einprasseln, werden geordnet und beurteilt, sodass wir schnell darauf reagieren können. Evolutionspsychologisch ist das durchaus sinnvoll: Was bedrohlich ist und was nicht, basiert auf Erfahrungswerten. Aufgrund von Vorurteilen, die häufig über mehrere Generationen einer Gesellschaft weitergegeben werden, lassen sich andere Menschen anhand einzelner Außenreize schnell bewerten und eine entsprechende Reaktion wird aktiviert.
Das Problem liegt darin, dass Vorurteile zum einen häufig nicht zutreffen, da sie auf vorschnellen Urteilen beruhen. Außerdem wird eine Eigenschaft sofort einer ganzen sozialen Gruppe zugeschrieben: Blondinen sind dumm, Polen stehlen. Und dass Verallgemeinerungen nicht zutreffen können, liegt auf der Hand.
Vorurteile sind überall – es gibt gegen jede soziale Gruppe, jede Religion, jedes Land, jede Berufsgruppe Vorurteile. Sie sind nicht aus der Welt zu schaffen. Allerdings ist es wichtig, sich seiner eigenen Vorurteile bewusst zu werden – denn seien wir mal ehrlich: Jeder von uns hat Vorurteile anderen gegenüber.
Da ich nicht daran glaube, dass man vollkommen vorurteilsfrei denken kann, habe ich stattdessen eine kleine Übung rausgesucht, mit der man das eigene Bewusstsein für Vorurteile trainieren kann. Mach ein (Gummi-) Armband um dein Handgelenk. Am besten eines, das sich leicht wieder abstreifen lässt. Ziel der Challenge ist es, das Armband 21 Tage lang am gleichen Arm zu tragen. Allerdings musst du den Arm immer dann wechseln, wenn du über jemanden urteilst. Dieses Urteil musst du dafür gar nicht laut ausgesprochen haben. Verurteilen fängt schon da an, wo du jemanden in Gedanken n in eine Schublade steckst. Wie negativ oder positiv dieses Urteil ausfällt, spielt keine Rolle.
Grundsätzlich geht es gar nicht darum, niemals wieder ein Urteil über jemanden zu fällen. Es geht vielmehr darum, dafür sensibilisiert zu werden, wie häufig und wie selbstverständlich wir Menschen verurteilen. Das Armband soll dich daran erinnern, deine eigene Meinung zu hinterfragen. Denn das, was wir als Einzelne wahrnehmen, ist immer nur eine Seite einer Geschichte.
Dass man Vorurteile überwinden kann, indem man auf die Menschen zugeht, zeigt besonders schön die Bibelstelle von Zachäus, dem Zöllner. Die Jünger und Umstehenden raten Jesus davon ab, das Haus des Zachäus‘ zu besuchen, doch Jesus stört sich daran nicht und ruft Zachäus zu sich. Und siehe da: Zachäus, den alle als Sünder und Betrüger bezeichnen, klettert von seinem Baum hinab und verteilt die Hälfte seines Geldes an die Armen.
Der Mann, von dem ich am Anfang geschrieben habe, heißt übrigens Herr König. Herr König besucht seit Jahren alle Veranstaltung zur deutschen Sprachgeschichte und der älteren deutschen Literatur. Und wenn die Dozierenden zum Beispiel nicht wissen, welche Funktion in der mittelalterlichen Stadtgesellschaft hatte, dann fragen sie Herrn König. Und der weiß das dann.