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23.01.2021
Body + Soul

Er schreibt mit den Verzweifelten

Sven hilft ehrenamtlich Jugendlichen mit Suizidgedanken

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von Tobias Schulte

Experten schätzen, dass in Deutschland täglich 40 Jugendliche versuchen, sich das Leben zu nehmen. Durchschnittlich sterben dabei zwei Jugendliche jeden Tag. Was tun? Eine Lösung lautet: Den Betroffenen zuhören, Mut zusprechen und falls nötig professionelle Hilfe ermöglichen. Dafür hat die Caritas das Online-Beratungsangebot „[U 25]“ entwickelt.

Per anonymer Mail können betroffene Jugendliche und junge Erwachsene ihre Probleme und Sorgen per Mail schreiben. Die Mails landen dann bei ehrenamtlichen Peer-Beratern wie Sven und Melanie. Die beiden heißen eigentlich anders, müssen aber anonym bleiben.

Mit jeder Mail, die sie erhalten und schreiben, tauchen Sven und Melanie in Emotionen ein, die vielen verborgen bleiben. Wir erzählen nacheinander die Geschichte der beiden Ehrenamtlichen.

Es gibt diesen einen Fall, der Sven am stärksten beschäftigt. Bei ihm hat sich eine Jugendliche gemeldet, die in ihrem näheren Umfeld sexuell missbraucht worden ist – und den Täter weiterhin fast täglich sieht.

Wenn Sven an das Schicksal der Jugendlichen denkt, wechseln sich bei ihm zwei Emotionen ab. Er sagt: „Das ist ein Fall, bei dem ich innerlich merke, dass ich wütend werde“. Aber er bewundere die Klientin auch für ihre innere Stärke. „Dafür, dass sie nach dem, was sie durchgemacht hat, immer weiter macht“, sagt Sven.

Rettungsring

Jemand, dem man sich anonym anvertrauen kann

Als Peer-Berater blickt Sven hinter die Fassade von jungen Menschen. Er erfährt, wie Jugendliche in ein Loch fallen, wenn sich ihre Eltern trennen. Wie Notendruck und Mobbing in der Schule die Psyche angreifen. Wie junge Menschen von Angststörungen, Essstörungen und Depressionen geprägt werden. Und wie das im Extremfall dazu führen kann, dass Suizidgedanken entstehen. 

Doch soweit muss es nicht immer kommen, damit Jugendliche und junge Erwachsene sich anonym melden dürfen. Obwohl das Programm U25-Suizidberatung heißt, sind die Beratenden für junge Menschen mit Krisen aller Art da. 


Um gezielt helfen zu können, lernen die ehrenamtlichen Beratenden in einer Fortbildung, wie es zu Krisen kommt, wie psychische Krankheiten und Suizidgedanken entstehen. Dann bekommen sie die Techniken des personenzentrierten Ansatzes nach Carl Rogers beigebracht, um in den Mails auf die Probleme der Jugendlichen und jungen Erwachsenen einzugehen.

Hohe Nachfrage

Da sich Jugendliche und junge Erwachsene in Krisen eher an Gleichaltrige wenden, ist das Angebot der U25-Suizidberatung hoch nachgefragt. Im Jahr 2020 wurden allein in NRW 496 Ratsuchende durch Peers beraten. Deutschlandweit waren in 2020 zu 65 Prozent der Zeit keine Beratungskapazitäten mehr frei. U25 ist ein deutschlandweites Projekt der Caritas. An zehn Standorten werden die Peer-Berater ausgebildet und begleitet, zum Beispiel in Dortmund und Paderborn.

Der Ansatz enthält viele scheinbar einfache Dinge, die in Krisenzeiten aber hilfreich sind. Zum Beispiel, dass der Beratende dem Klienten Interesse an seiner Person zeigt, ihn ernst nimmt, zuverlässig antwortet, positives Denken fördert und Tipps zur Selbsthilfe gibt. Durch gezielte Fragen und emotionale Unterstützung soll dem Klienten dabei geholfen werden, seine eigenen Ziele zu formulieren und seinen eigenen Weg zu gehen. Doch die Hilfe hat auch Grenzen. „Unsere Chat-Gespräche sind nicht mit einer Therapie bei einem Psychologen vergleichbar“, sagt Sven.

„Das bin einfach ich“

Das konnte es noch nicht gewesen sein. Sven arbeitete als Groß- und Außenhandelskaufmann. Das Unternehmen, bei dem er die Ausbildung abschloss, übernahm ihn. Doch Sven erzählt, wie ihm sein Chef im Arbeitsalltag viel Druck gemacht habe. So viel Druck, dass er sich sagte: „Da habe ich keinen Bock drauf. Ich bin mir zu schade, jeden Tag diesen gleichen Ablauf zu haben.“

Während der Ausbildung wohnte Sven bei seinen Eltern und trainierte eine Jugendmannschaft des örtlichen Fußballklubs. Er sagt: „Das Menschliche kriege ich ganz gut hin.“ Als er mit seinem Job unzufrieden war, fragte Sven seine Kumpels, „wo die ihn so sehen“. Er begann, einen anderen Weg hin zu einem sozialen Beruf einzuschlagen.

2018. Auf Instagram sieht Sven, dass eine Freundin einen Post der Caritas in ihrer Story geteilt hat. In dem Beitrag sucht die Caritas neue ehrenamtliche Beratende für die U25-Suizidberatung. Sven hat sich beworben und wurde genommen. Er sagt: „Wenn man seinen Tag reflektiert, dann hat man neben Arbeit oder Uni noch viel Zeit, in der man etwas machen kann. Da möchte ich mich anderthalb Stunden hinsetzen und einem Jugendlichen helfen statt Playstation zu zocken. Das bin einfach ich.“

Frau mit Handy

„Alles hat Konsequenzen“

Du hast Suizidgedanken oder befindest dich in einer persönlichen Krise? Dann kannst du auf https://www.u25-deutschland.de/ anonym eine Helpmail schreiben.

Wenn du dich ehrenamtlich als Peer-Beratender einbringen möchtest, findest du hier die Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner, bei denen du dich melden kannst: https://www.u25-deutschland.de/ueber-uns/u25-standorte/

Als Berater kann Sven frei entscheiden, wie viel Zeit er für das Ehrenamt investiert. Aktuell nimmt er sich jede Woche zwischen vier und sechs Stunden Zeit, um die Mails der Klienten zu beantworten. Aus christlicher Sicht spiegelt das Ehrenamt von Sven total den Punkt Nächstenliebe wider. Deshalb lässt sich auch eine Frage zu seinem Glauben nicht verkneifen.

Sven erzählt, dass der Besuch einer Messe für ihn an Weihnachten und Ostern dazugehöre. Aus Tradition. Dann sagt er: „Ich kann sagen, dass ich an Gott glaube. Ich glaube, dass gewisse Dinge so passieren, wie er das will. Gott kann sein Wörtchen mit einbringen, wie das Leben läuft. Aber darüber hinaus glaube ich … “. Pause. Er überlegt.

„Häufig“, sagt Sven dann, „wird es ja so vertreten, dass Menschen mit einer Beziehung zu Gott ihr ganzes Leben auf dem roten Teppich oder so laufen.“ Er sagt: „Das glaube ich nicht. Und wir Menschen sind auch für vieles selbst verantwortlich. Alles hat Konsequenzen“.

Probleme nicht kleinreden

Durch den Kontakt mit so vielen Jugendlichen hat Sven gelernt, jedes Problem ernst und wichtig zu nehmen. „Ich möchte die Jugendlichen so akzeptieren, wie sie sind“, sagt er. „Selbst, wenn das Problem banal klingt, kann es für die Jugendlichen schon schwerwiegend sein.“ Ein persönlicher Lerneffekt besteht darin, nicht aus der eigenen Sicht auf die Probleme anderer zu schauen – sondern aus der Lage der betroffenen Person.

Wie gut Sven mit seinen Antworten per Mail hilft, lässt sich nur schwer messen. Wenn sich Klienten nach wochen- oder monatelangen Chat-Gesprächen nicht mehr zurückmelden, kann es sein, dass es ihnen gut geht. Oder dass sie tiefer in die Krise gerutscht sind und denken, dass der Austausch doch nichts bringt. Doch jede Mail, die mit „Danke für deine Hilfe“ oder „Danke, dass ich dir meine Probleme erzählen darf“ endet, gibt Sven das Gefühl, das Richtige zu tun.

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