Die EU-Flagge weht im Wind
10.08.2021
Politik

EUtopie

Tochter aus Elisium oder Gurken-Bürokratie – wohin will die EU?

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von Lioba Vienenkötter

Freiheit, Frieden, Kulturenvielfalt, Kooperation, Wirtschaftsraum, Gemeinschaft, Zukunft, Mobilität, Sicherheit. Das verbinden meine Kommilitonen und Kommilitonen mit der EU, zumindest laut meiner Mini-Umfrage im Geschichtsseminar. Ich denke auch an: Flüchtlinge, die vor den Außengrenzen in unwürdigen Zuständen leben, Hyper-Bürokratie à la Krümmungsgrad von Schlangengurken, Rechtsruck und Brexit.

Bröckelt die EU? Und warum sollte die Zukunft der Staatengemeinschaft überhaupt interessieren?

Weil die EU unser Leben bestimmt. Die Regelungen und Gesetze der EU bestimmen längst nicht mehr nur das politische Vorgehen ihrer Mitgliedsstaaten, sondern auch das Leben der Menschen:

Wie soll es also mit der EU weitergehen?

Für diese Frage gibt es verschiedene Szenarien: Die erste wäre der Rückschritt zu den Nationalstaaten und nationalstaatlicher Souveränität, also das Modell, das Großbritannien gerade testet. Das Problem: in einer globalglobalisierten Welt, in der alle Staaten in ständiger Konkurrenz stehen, haben Länder ohne Bündnisse keine Chance. Da die EU ein solches Bündnis ist, ist sie ganz pragmatisch betrachtet der nationalstaatlichen Lösung vorzuziehen.

Der zweite Ansatz: die EU der verschiedenen Geschwindigkeiten. Dabei könnten die Mitgliedsstaaten selbst entscheiden, wie stark sie sich in die EU einbringen möchten. Engagement und Privilegien bedingen sich in diesem Ansatz gegenseitig. Es ist allerdings fraglich, ob dies nicht ohnehin das Modell von EU ist, in dem wir ohnehin schon leben, so Politikwissenschaftler Wolfgang Wessels.

Eine dritte Idee ist die der Vereinigten Staaten von Europa. Und dieses Konzept ist schon ganz schön alt. Bereits der ehemalige britische Premierminister Winston Churchill sagte in seiner Rede in der Universität Zürich am 19.09.1946, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg: „Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten.“ 75 Jahre später gibt es zwar die EU – entstanden aus einigen vorangegangener Organisationen, aber keine Vereinigten Staaten von Europa.

Auf dem Weg zur Einheit?

Die Vereinigten Staaten von Europa hätten große Vorteile für die Mitgliedsländer: Sie ermöglichten ein gemeinsames Militär und eine Stabilisation des Euro. Europäische Institutionen wie das Parlament oder die Kommission würden gestärkt. Außerdem wäre es möglich, eine allgemeingültige Sozialpolitik aufzubauen, die die bestehenden Freizügigkeit absichert.

Die Vereinigten Staaten könnten somit politisch, wirtschaftlich und militärisch geschlossener auftreten und sich gegenüber anderen Staaten wie den USA oder China besser behaupten. Genau an diesem Punkt scheiterten bisherige Planungen allerdings, denn eine engere Verbindung der Staaten führt zum Machtverlust der Nationalstaaten, die ihre Kompetenzen allerdings nur ungern abgeben möchte. Ferner bestehen große Differenzen zwischen den Staaten hinsichtlich Sozialpolitik und Einhaltung bestimmter Wertevorstellungen und Menschenrechte, wie gerade an der Diskriminierung der LGBTQ+ Community in Polen und Ungarn zu sehen ist.

Die Flagge der EU strahlt in blau und gelb.

2019 wurden 8000 Bürgerinnen und Bürger der EU befragt, ob sie den Vereinigten Staaten von Europa zustimmen würden. In Deutschland waren 30% dafür, in Frankreich 28%, in Schweden und Finnland 13%. 

Neue Grundrechte für Europa

Abgesehen von diesen drei großen Konzepten zur europäischen Zukunft bekam eine ganz andere Idee im Frühjahr 2021 viel Aufmerksamkeit. Es geht um das Manifest Jeder Mensch, das der Jurist und Autor Ferdinand von Schirach im April veröffentlichte und in dem er sechs neue Grundrechte vorstellt, die mit anderen Juristen und Juristinnen zur Weiterentwicklung der EU erarbeitet wurden. 

Das klingt ja erstmal ganz nett, wurde in der Öffentlichkeit und juristischen beziehungsweise politischen Fachkreisen aber durchaus hitzig diskutiert: Denn einige Ideen sind nicht neu oder werden schon von bestehenden europäischen Gesetzen abgedeckt. An einigen Stellen sind die Gesetze, die formuliert werden, juristisch nicht vollends definiert: Was heißt beispielsweise „Wahrheit“? Laut Schirach ist das jedoch unproblematisch, da die Menschen wüssten, was Wahrheit sei. Das sei dann auch vor Gericht anführbar.

 
Positiv zu bewerten ist auf jeden Fall der basisdemokratische Ansatz der Kampagne, demzufolge im Internet für die Gesetze abgestimmt werden kann. Die Inklusion aller Menschen scheint gerade im Kontext neuer Grundrechte ein sinnvoller Schritt zu sein und unterstreicht die Bedeutung der EU auch für die und den Einzelnen. Wie inklusiv eine auf Deutsch und Englisch ausschließlich online verfügbare Wahl ist, lässt sich aber diskutieren.

Artikel 1 - Umwelt
Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.


Artikel 2 - Digitale Selbstbestimmung
Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.


Artikel 3 - Künstliche Intelligenz
Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.


Artikel 4 - Wahrheit
Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.


Artikel 5 - Globalisierung
Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.


Artikel 6 - Grundrechtsklage
Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.

Eine Reihe EU-Flaggen vor einem Gebäude

Die EU als große Chance

Fest steht, die EU ist ein sensibles Konstrukt, mit dem nicht leichtfertig verfahren werden darf. Es sollte schließlich nicht vergessen werden, welches Potential in der EU schlummert – für die Mitgliedsstaaten aber auch für ihre Bürgerinnen und Bürger. Noch nie in seiner Geschichte hat Europa so lange den Frieden bewahren können und noch nie hatten die Menschen so viele Freiheiten. Was fehlt sind gemeinsame Lösungen – egal ob es um die außenpolitischen Beziehungen zu wichtigen Handelspartnern, die Sanktionen für außer- und innereuropäische Vergehen, den Klimaschutz oder eine menschenwürdige Flüchtlingspolitik geht. 

So sehr die EU die Politik der Nationalstaaten und das Leben der Bürgerinnen und Bürger bestimmt, so viel Einfluss können die Menschen und Staaten auch auf die EU nehmen. Eine Möglichkeit ist - neben den Wahlen zum Europaparlament – auch die Wahlen in den einzelnen Ländern, da die Regierungen über das Verhalten des Staates gegenüber der EU entscheiden. Es lohnt sich also bei der Bundestagswahl im September auch auf die Haltungen der einzelnen Parteien zur EU zu schauen. Denn auch so lässt sich über die Zukunft der EU mitbestimmen.

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