Kai Echelmeyer arbeitet für Sea-Eye. Menschen vor dem Ertrinken zu retten ist für ihn menschlich und christlich.
Im September 2020 wird für Kai Echelmeyer der Ausnahmezustand zum Alltag. Wenn der 26-Jährige morgens wach wird, braucht er nur noch fünf Sekunden, um die Situation zu realisieren. Es ist 7 Uhr morgens. Echelmeyer wird auf dem zentralen Mittelmeer wach. Seine Schicht beginnt. Kai Echelmeyer gehört zur Besatzung des Rettungsschiffs Alan Kurdi der Organisation Sea-Eye. An Bord sind 133 Menschen, die die Crew gerettet hat.
Für Kai Echelmeyer und die Crew beginnt nun die anstrengendste Zeit der Rettungsmission. Das Team leistet medizinische Hilfe, kocht für die Aufgenommen zwei warme Mahlzeiten am Tag, spricht mit ihnen über ihre Zukunftssorgen und Pläne. Erleichterung und Hoffnung aber auch Anspannung liegen in der Luft.
Die Alan Kurdi hält Kurs auf Europa. Tagsüber heizt die Sonne die Luft auf dem zentralen Mittelmeer auf. Nachts wird es kälter und dadurch unangenehm für die Geflüchteten, die draußen schlafen müssen. In den kommenden Tagen werden Italien, Malta, Frankreich und Deutschland darüber verhandeln, in welchem Land die geflüchteten Menschen aufgenommen werden. Es geht um den Verteilungsschlüssel, um Solidarität und Gerechtigkeit innerhalb der Europäischen Union (EU) und natürlich auch um Geld. Für Kai Echelmeyer fühlt es sich so an, als würden die Staaten versuchen, sich gegenseitig die Verantwortung hin und herzuschieben.
Die Leiche von Alan Kurdi wurde im Jahr 2015 an einem türkischen Strand gefunden. Das Bild des Jungen, der mit rotem T-Shirt und blauer Hose bekleidet mit dem Gesicht im Sand lag, ging um die Welt. Der Junge floh zusammen mit seiner Familie, ihr Ziel war Griechenland, denn sie hofften in der Europäischen Union Sicherheit und Schutz zu finden. Als ihr Boot sank, ertrank fast die gesamte Familie. Nur der Vater überlebte.
Das Beispiel Seenotrettung zeigt, wie vertrackt die Lage sein kann. Es kommt auf den Blickwinkel an. Politiker argumentieren, dass Seenotrettung dazu führe, dass noch mehr Menschen den Weg übers Mittelmeer wagen. Einige Staaten blockieren daher ihre Häfen für die Rettungsschiffe. Und in den einzelnen Ländern haben Bürgerinnen und Bürger Angst, dass Migranten ihnen die Lebensgrundlage, wie Jobs, wegnehmen könnten. Einige, dafür sehr aggressive Userinnen und User hetzen im Netz gegen Migranten und die Arbeit von Sea-Eye, Sea-Watch Co.
Wenn Kai Echelmeyer diese Argumente hört, antwortet er zunächst: „Es ist einfach falsch, dass durch Seenotrettung mehr Menschen fliehen und, dass Geflüchtete Arbeitsplätze wegnehmen. Sie tun unserer alternden Gesellschaft gut. Aber im Endeffekt“, sagt Echelmeyer, „machen wir etwas total Unpolitisches. Wir retten Menschen vor dem Ertrinken.“ Und viele Migranten hätten auch den Wunsch, irgendwann in ihre Heimat zurückzukehren. Wenn Seuchen, Bürgerkrieg oder Hungersnot ein Ende haben.
Kai Echelmeyer erzählt das alles per Videokonferenz aus seinem Wohnzimmer in Bonn. Er ist seit zwei Jahren in der Seenotrettung aktiv. Zunächst ehrenamtlich, seit einem Dreivierteljahr hauptberuflich. Normalerweise ist es seine Aufgabe, die 20 lokalen Gruppen von Sea-Eye zu unterstützen. Er steht für alle Fragen bereit, hilft dabei, Kundgebungen und Infostände zu organisieren.
Doch Anfang Februar tauschte er den Schreibtisch gegen einen Arbeitsplatz in einer norddeutschen Werft. Kai Echelmeyer hat dabei mitgeholfen, ein neues Schiff für den Einsatz im Mittelmeer vorzubereiten: die Sea-Eye 4. Er warf beispielsweise alte, riesige Kabeltrommeln vom Schiff und baute die Krankenstation an Deck mit auf.
Unterstützung bekam die Initiative dabei von der Katholischen Kirche. Für den Einsatz der Sea-Eye 4 haben die drei (Erz-)Bistümer Paderborn, München und Freising und Trier 125.000 Euro gespendet. Mit der finanziellen Würdigung durch die katholischen Bistümer soll die Überführung des Schiffs ins Mittelmeer finanziert werden. Für Kai Echelmeyer ist die Spende der drei Bistümer „ein sehr positives Zeichen.“
»Als Christen können wir nicht anders, als Menschen in Not zu helfen. Wir dürfen und wollen Menschen nicht ertrinken lassen. Die Unterstützung der Seenotrettung ist ein bewusstes Zeichen des gelebten Glaubens. Jeder Mensch ist von Gott als sein Ebenbild geschaffen. Jedes Menschenleben ist gleich viel wert. Das ist unser Verständnis von der unverlierbaren Menschenwürde ohne Ansehen der Person. Da ist uns unser Glaube Auftrag und Pflicht.«
Alfons Hardt
Generalvikar
Kai Echelmeyer ist seit über zehn Jahren in der katholischen Kirche aktiv: Ministrant, Firmkatechet, Pfarrgemeinderat. Ohne ihn groß danach fragen zu müssen erklärt Echelmeyer, dass sein Einsatz für die Seenotrettung auf seinen christlichen Werten basiert. Nächstenliebe, Gleichheit, Gerechtigkeit – diese Werte habe er von klein auf von seinen Eltern und der Gemeinschaft der Kirche mitbekommen. Er sagt: „Alle Menschen sollten die gleichen Chancen haben“.
Die Kirche ist aber mehr als eine Gemeinschaft von Menschen, die sich für gleiche Werte engagieren. Sie ist eine Gemeinschaft des Glaubens. Deshalb die Frage an Kai Echelmeyer: Was glaubst du?
Der 26-Jährige überlegt. Hadert. Wiederholt die Frage. „Ich glaube vor allem an Gemeinschaft“, sagt er dann. „Dass die Kirche eine Gemeinschaft ist, in der vieles entstehen kann.“ Er hält wieder ein paar Sekunden inne. „Ich glaube, dass es da größere Kräfte gibt“, sagt Echelmeyer. „Und, dass das Leben nicht vorbei ist, wenn wir tot sind. Dann fängt es erst an.“
Kai Echelmeyer erzählt weiter. Er kommt auf einen Wandel in seinem Glauben zu sprechen. Man könnte die Veränderung so erzählen, dass sie nach Schema F klingt. Erst glaubt er, dann erlebt er etwas Schlimmes und dann kann er nicht mehr glauben.
Ganz so leicht ist es nicht. Doch das Leid der Menschen, die fliehen und mit der Reise übers Mittelmeer ihr Leben auf Spiel setzen, hat Echelmeyers Glauben schon angefragt. Man könnte sagen: Umgekrempelt. Oder: Reifen lassen. „Wenn ich früher gebetet habe“, erzählt Kai Echelmeyer, „dann dachte ich, dass Gott darauf reagiert, dass er in die Welt eingreift“.
Heute glaubt Echelmeyer eher an einen Gott, der der Menschheit die Freiheit lässt und mit ihnen einen Weg geht. Die Freiheit, Gott zu suchen und zu entdecken. Die Freiheit, sich für das Gute einzusetzen. Er bete immer noch - aber nun eher, um seine Erlebnisse verarbeiten und Gedanken kanalisieren zu können, sagt Echelmeyer. Und: „Ich glaube auch, dass wir am Ende daran gemessen werden, wie wir uns auf der Welt verhalten haben, dass gute Taten belohnt werden“. Ein Zitat, das gut als Cliffhanger für seine Glaubensgeschichte dienen kann. Da kommt noch was.
Im Wohnzimmer von Kai Echelmeyer hängt eine Mexiko-Fahne. Sie thront fast schon über Echelmeyer, als wir per Videokonferenz sprechen. Die Fahne erinnert ihn an den Freiwilligendienst in einer katholischen Kirchengemeinde in Mexiko, den Echelmeyer nach dem Abitur im Jahr 2013 absolvierte. Danach zog er nach Bonn, um zu studieren. Erst Mathematik im Bachelor und Master, dann Politikwissenschaften.
Als Student fasst Echelmeyer zum ersten Mal Kontakt mit dem Seenotrettungsverein Seebrücke. 2019 tritt er dann der Ortsgruppe von Sea-Eye bei. Er organisierte Infoaktionen und Spendensammlungen. So gut, dass er das Angebot bekam, hauptberuflich für den Verein zu arbeiten.
Kai Echelmeyer ist Hobby-Segler, hat mehrere Bootsführerscheine. Bei einer Mission auf einem Rettungsschiff mitzufahren, das hat ihn lange schon gereizt. Zugetraut hat er es sich auch. Im September 2020 war es dann so weit. Wenn Kai Echelmeyer rückblickend von den Tagen an Bord erzählt, wird deutlich: Die Zeit war anstrengend. Herausfordernd. Aufrüttelnd. Aber vor allem lehrreich.
In der Rückschau sind Echelmeyer vor allem die Momente ans Herz gegangen, die bei aller Hektik und Anspannung einen Hauch von Alltäglichkeit versprühten. Als Beispiel erzählt er, wie er sich mit einem jungen Mann unterhielt, nennen wir ihn Jamal.
Jamal ist zusammen einem Freund vor dem Krieg im Jemen geflohen. Als die beiden im Schlauchboot Richtung Europa saßen, packte den Freund die Angst, auf dem Mittelmeer zu ertrinken. Er stieg um auf ein Fischerboot zurück nach Libyen. Die Angst war größer als die Freundschaft.
Als sich Kai Echelmeyer mit Jamal unterhält, findet er heraus, dass sie etwas verbindet: die Liebe zum Fußball. Beide sind glühende Fans des FC Bayern München. Sie quatschen über das Triple und Thomas Müller. Über das Thema Fußball habe einen Zugang zu vielen Gästen bekommen, sagt Echelmeyer. Dann diskutierte er in wackligem Französisch, ob Messi oder Ronaldo der beste Fußballer der Welt ist.
Ein anderes Beispiel. Ein Mann aus Ägypten erzählte Kai Echelmeyer, dass er geflohen ist, weil die Regierung sein Haus enteignete. Das dürfe die Regierung, um eine öffentliche Straße zu bauen, sagt Echelmeyer. Kompensation? Fehlanzeige. Perspektive? Armut. Was folgt: Die Flucht nach Europa. Es ist nur eines von unzähligen Beispielen, warum Menschen ihre Heimat verlassen und fliehen. Und es zeigt auch, wie komplex die vielzitierte „Bekämpfung“ von Fluchtursachen ist.
Mit dem Mann aus Ägypten teilte sich Echelmeyer eine andere Leidenschaft: Schach. An Bord der Alan Kurdi packte Kai Echelmeyer ab und zu sein Schachbrett aus und spielte mit den Geflüchteten. Die meisten zog er ab – Erfahrung aus 13 Jahren Schachklub. Doch mit dem Gast aus Ägypten entwickelten sich Duelle auf Augenhöhe, die abends zur Unterhaltung für die Schachbegeisterten an Deck wurden.
Menschen auf der Flucht sind Menschen. Sie spielen Schach, interessieren sich für Fußball und träumen von einer sicheren Zukunft. Das kann leicht vergessen werden, wenn in den Nachrichten nüchtern Zahlen genannt werden, wie viele Menschen beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen, gestorben sind. Hinter jeder Zahl steckt ein Schicksal.