14.03.2024
YOUNG MISSION

Micha Kunze: Aus dem inneren Gefängnis ausbrechen

Wie der Poetry-Künstler sich von einem strafenden Gottesbild befreit – und neue Glaubenssätze für sein Leben erarbeitet

von Tobias Schulte

Triggerwarnung: In diesem Text geht es auch um das Thema Depression. Wenn du dich mit dem Thema nicht wohlfühlst, lies den Text nicht weiter oder nicht allein.

Manchmal fallen einem Dinge erst nach Jahren auf. Da merkt man, dass man Prinzipien verinnerlicht hat, die einen runterziehen. Einengen. Kleinmachen. Micha Kunze kennt dieses Gefühl sehr gut.

Der 33-Jährige ist Spoken-Word-Künstler. Passend zum Motto „Sprich nur ein Wort!“ war er deswegen zum YOUNG MISSION-Weekend eingeladen, um über seine Poetry-Kunst und seinen Glauben zu sprechen.

Michas Kindheit auf einem Bauernhof

Michas Glaubensgeschichte beginnt in einem Dorf in Baden-Württemberg: Bietigheim-Bissingen. Dort verbringt er – zumindest augenscheinlich – eine ganz normale Kindheit: Schule, Gemeinde, Familie.

Als zweites von vier Kindern fliegt er oft unter dem Radar und wird zum stillen Leistungsträger, der keine Probleme macht.

„Vor zwei oder drei Jahren habe ich gedacht, dass meine Kindheit und meine Jugend perfekt waren“, sagt Micha „Heute weiß ich: Hier sind schon viele Glaubenssätze gewachsen, die mir später zum Verhängnis wurden.“

Zwischen beiden Aussagen liegen nicht nur mehrere Jahre – sondern auch Michas tiefe Krise.

»Wir müssen drauf achten, dass es uns gutgeht, nur dann können wir der Welt etwas geben.«

Micha Kunze
Poetry-Künstler

Michas Gefühl: "Ich schaffe das nicht mehr allein"

In der Coronazeit brechen Micha als Künstler und Freiberufler zwei Mal alle seine Aufträge weg. Im zweiten Lockdown, November 2020, spürt er, dass er keinen Saft mehr hat. Er sagt: „Am Anfang habe ich gar nicht gemerkt, dass ich in eine Depression reinschlittere. Aber nach einem halben Jahr wusste ich, dass ich mein Leben nicht allein hinkriege.“

Micha sucht Hilfe in Form einer Therapie. Es dauert ein halbes Jahr, bis er einen Platz bei einem Psychologen bekommt. Dann beginnt eine entscheidende und aufschlussreiche Reise.

Zusammen mit dem Therapeuten blickt Micha auf sein Leben und seine Kindheit zurück. Er entdeckt Denkmuster, Prinzipien und Glaubenssätze, die ihn kleinmachen. Und die sich auch durch seine christliche Prägung eingeschlichen haben.
Ein Beispiel: Als Kind lernt Micha einen Gott kennen, der nicht auf seiner Seite ist. Micha sagt: „Ich dachte lange: Wenn ich Scheiße baue, ist Gott der Erste, der sagt: So, jetzt gibt es die Konsequenz“.

Ein anderes Thema: Leistung. Micha sagt: „Ich kenne einige Leute, die sich zu Tode geackert haben, weil sie für den Herrgott schön fleißig sein wollten. Dieses Denken findet natürlich auch bei vielen Menschen jenseits der Kirchen statt. Leistung ist ein großer Wert in Deutschland, unter dem viele leiden.“

Durch die Gespräche mit dem Therapeuten lernt Micha darauf zu hören, wenn sein Körper ihm signalisiert, dass es zu viel ist. Micha sagt: „Wir müssen drauf achten, dass es uns gutgeht, nur dann können wir der Welt etwas geben.“

Micha Kunze erzählt seine Glaubensgeschichte beim YOUNG MISSION-Weekend am 10. März.

"Ich bin erstmal."

»Ich bin nicht der Sträfling. Ich bin der Architekt.«

Micha Kunze
im Poetry "Alcatraz"

Andere Glaubenssätze, die er bei sich entdeckt: „Ich muss das allein schaffen. Ich darf keine Hilfe in Anspruch nehmen. Nur, wenn ich leiste, bin ich wertvoll. Ich bin für die Gefühle anderer verantwortlich.“

Gedanken, die für Micha wie ein inneres Gefängnis sind. Ein Gefängnis, aus dem er ausbrechen will – und kann. Davon erzählt sein Text „Alcatraz“, den er beim YOUNG MISSION-Weekend performt. In dem Text wacht das lyrische Ich plötzlich auf und merkt, dass die Gitterstäbe nur in seinem Kopf sind. Dass er nicht der Sträfling, sondern der Architekt ist.

Das führt zu der Frage: Aus welchen neuen Glaubenssätzen baut er sein Leben auf? „Ich arbeite noch dran“, sagt Micha, „aber was sich vor allem gewandelt hat, ist, dass ich sage: „Ich bin erstmal. Ich bin etwas wert. Ich darf Hilfe in Anspruch nehmen. Ich darf mich anderen Menschen zumuten.“

Diese innere Einstellung habe ihm schon in vielen Situationen geholfen, erzählt Micha: „Ich gehe nicht mehr in einen Raum und frage mich, ob ich es allen rechtmache – ich denke: Ich bin jetzt erstmal ich.“

Micha Kunzes Gottesbegegnugnen beim Therapeuten

Obwohl die Gespräche mit dem Therapeuten zunächst psychologisch sind – für Micha Kunze haben sie auch eine spirituelle Ebene. Er sagt: „Da war mir jemand gegenüber, der auf meiner Seite ist, der mir Hilfestellung gibt, der mehr weiß als ich und der mir helfen kann. Ich dachte: Wenn Gott ansatzweise so ist wie der Therapeut, dann kann ich auch mit Gott wieder etwas anfangen.“

In Michas Gottesbild ist Gnade heute ein wichtiger Begriff. Ihn fasziniert die Bibelstelle: „Die Güte des HERRN hat kein Ende, sein Erbarmen hört niemals auf, es ist jeden Morgen neu!“ (Klagelieder 3,22-23). 

Micha erklärt: „Gnade kann ja erst greifen, wenn jemand Scheiße gebaut hat. Jemand hätte eigentlich Strafe verdient, doch Gott geht gnädig mit ihm um – und nicht nur punktuell. Gottes Gnade ist ein Zustand. Eine Haltung, jeden Morgen neu.“ 

Micha ergänzt: „Es hat auch mega viel freigesetzt, wenn ich jemandem Gnade entgegengebracht habe. Dafür musste ich sie aber erst einmal für mich annehmen.“

Glaubensinput per Spotify

Kirchlich aufgewachsen ist Micha in einer evangelischen Landeskirche. Davon hat er sich gelöst. Er sagt: „Mein Weg hat sich davon entfernt, sonntags in die Kirche zu gehen. Meine spirituelle Praxis ist eher, den Austausch mit Menschen zu suchen. Menschen können einen extrem heilsamen, göttlichen Umgang miteinander haben, auch wenn sie nicht aus dem kirchlichen Bereich kommen.“ 

Glaubens-Input schnappt Micha vor allem auf Spotify auf. Dort hört er Impulse des Podcasts „Worthaus“ von Siggi Zimmer oder Thorsten Dietz. Auch in der Kunst, Musik und Natur entdeckt Micha Kunze Gott. Und in Menschen. 

Während des Glaubensgesprächs bei YOUNG MISSION schaut er in die Gesichter der 180 jungen Menschen und sagt: „Ich sehe Gott auch hier. In jedem Einzelnen, in der Gemeinschaft. Ich nehme es ernst, wenn Gott sagt, dass er auch in uns wohnt.“

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